Willkommen im sonnigen Tschernobyl
zu.
Er hieß Herr Ma und wollte wissen, ob ich das Gespräch verstand, dem wir lauschten. Cecily sagte, nein, das tue ich nicht.
»Aber Ausländer sind doch intelligenter als Chinesen«, sagte er, nicht mal halb im Scherz. Er hatte einmal einen Ausländer Chinesisch sprechen hören und glaubte daher, es müsse für Ausländer sehr leicht sein, die Sprache zu lernen. Er dachte, auch ich müsste sie eigentlich verstehen.
Ungläubigkeit darüber, dass ich kein Chinesisch verstand, war immer wieder Thema. In Guiyu hatte Frau Han Cecily mehr als einmal danach gefragt. Er kann uns nicht verstehen? Überhaupt nicht?
Herr Ma war pensionierter Gefängniswärter und hatte sein ganzes Leben in Linfen verbracht. Die Stadt sei über die Jahre gewachsen, sagte er, aber verändert habe sie sich nicht sehr. War mir die Luft aufgefallen?
»Ja.«
»Das sind Dunst und Kohle«, sagte er.
»Ja, tatsächlich«, antwortete ich.
Er wandte sich an Cecily. Sie solle aufgeschlossen gegenüber Flirts mit Ausländern sein, riet er ihr. Es sei mittlerweile okay, wenn Chinesen und Amerikaner heiraten.
Cecily verdrehte die Augen. Glaube ich zumindest, denn ich war selbst damit beschäftigt. Herr Ma sagte jedoch auch noch – das muss man ihm zugutehalten –, er halte es für richtig, dass sie sich auf ihre Karriere und Ausbildung konzentrierte.
»Kümmere dich gut um ihn«, empfahl er ihr, als wir uns trennten. »Er ist ein Gast unseres Landes.«
*
Neben dem Smog bietet Linfen noch weitere respektable Sehenswürdigkeiten. Vom Trommelturmplatz aus kann man über das Gelände der Shanxi Normal University zum Flussufer joggen, das mich ein wenig an den Hudson River Park in Manhattan erinnerte. Es gab zwar keine Skateparks oder Beachvolleyballfelder, aber eine – im Winter geschlossene – Minigolfanlage.
Östlich des Flusses erstreckt sich das Gelände um das Hua-Tor, eine weitläufige Fußgängerzone mit Tempeln und anderen Gebäuden. Von denen ist vermutlich nur der Yao-Tempel echt, eine jahrtausendealte Stätte aus einer der frühesten chinesischen Dynastien. Aber es ist nicht so einfach herauszufinden, was echt ist. Gegenüber dem Yao-Tempel befindet sich ein kleiner Nachbau des berühmten Mittagstors der Verbotenen Stadt. Und ein paar Schritte weiter findet man noch eine Kopie, nämlich einen Nachbau des Himmelstempels, der sich vom Original in Peking nicht nur dadurch unterscheiden lässt, dass er um einiges kleiner ist, sondern auch, weil er ein Geisterhaus beherbergt.
Von einem Imbisskarren kauften wir zwei Rou Jia Mo, große, flache Teigtaschen mit Schweinefleisch, Zwiebeln und Peperoni gefüllt. Ich verschlang das Sandwich in der kalten Winterluft und beschloss, dass es das Köstlichste war, was ich je gegessen hatte.
Neben uns stand ein großes Schild mit einem Bild des Hua-Tores, einer Art übergroßem Arc de Triomphe. EINER DER FÜNFZIG INTERESSANTESTEN ORTE FÜR AUSLÄNDISCHE BESUCHER , war darauf zu lesen. NATIONALE AAAA TOURISTENATTRAKTION.
Das klang gut. Wir machten uns auf den Weg zum anderen Ende der Fußgängerzone, an Schießbuden und Fahrgeschäften vorbei, Überbleibsel von den Feierlichkeiten zum Frühlingsfest. Wir blieben kurz stehen, um eine große Betonreliefkarte von China zu erforschen, deren zerknitterte Berge mir bis zum Knie reichten. Wir stapften über die Erde und hüpften von einem Abschnitt der kleinen Chinesischen Mauer zum nächsten, überquerten ganze Flusssysteme mit einem Schritt. Ich landete zufällig auf Sichuan, der Heimatprovinz der Familie Han und betrachtete von oben die rosafarbene Fläche, von der die Farbe abbröckelte.
Am anderen Ende der Straße thronte das Hua-Tor. Es war zwar nur ein paar Jahre alt, dafür aber das größte Tor der Welt, wie ein Mann uns erzählte. Als Tor konnte man es jedoch nur bezeichnen, wenn man ein Auge zudrückte.
»Wenn es ein Tor wäre, müsste man hindurchfahren können oder so«, kritisierte Cecily.
Aber das war nicht die Bestimmung des Hua-Tores. Vielmehr war es eine Art nationales Kraftsymbol, der protzige Prachtbau einer Nation, die sich neuerdings ihrer Vorherrschaft sicher war. Es war ein monumental-kunstvolles, torähnliches Gebäude, dessen riesige Tore jedoch durch Glaswände versperrt waren. Auf der Suche nach den Treppen gingen wir über Marmorböden und an gewaltigen, bunten Säulen vorbei. Drei Stockwerke höher und beleuchtet von bunten LED s, die dem Ort den Glanz von Las Vegas verliehen, befand sich der »Saal bedeutender
Weitere Kostenlose Bücher