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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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des chinesischen Stroms stammen aus Kohlekraftwerken und mit dem sprunghaften Anstieg des Stromverbrauchs stieg auch die kohlebasierte Energieerzeugung. China ist nicht nur der bei Weitem größte Kohlekonsument der Welt, sondern hat insgesamt auch den höchsten Energiebedarf und stößt am meisten CO 2 aus. Und obwohl China bei erneuerbaren Energien wie Wind- und Solarstrom weltweit eine Spitzenposition einnimmt, ist es die Kohle, die den rasanten Aufschwung des Staates befeuert.
    Und das geht auch uns etwas an. Dort wird die Kohle verbrannt, aber das Kohlendioxid gelangt überall hin. Wenn der Westen also durch irgendein Wunder aufhört, das Weltklima zu versauen – na ja, das wird wahrscheinlich nicht eintreten. Egal, jedenfalls hat China da weitergemacht, wo wir noch nicht aufgehört haben.
    Die am stärksten verschmutzte Stadt der Welt. Wir befanden uns nun in der Innenstadt. Überall war Staub, er lag in dicken Schichten auf den Autos, hing in der Luft, überzog die Gebäude. Endlich, dachte ich. Endlich mal ein richtig trostloser Ort. Ein verpesteter Ort, an dem es nicht schön ist. Ein Ort, von dem ich sagen kann: Jawohl. Es ist sogar noch schlimmer, als man es sich vorstellt.
    Autos glitten in der Dämmerung vorbei, als wir unseres abstellten und ins Hotel gingen. Dort hatte das Personal aber offenbar unsere Reservierungen verbummelt und wirkte überhaupt verblüfft, dass jemand eine ganze Nacht in ihrem Hotel verbringen wollte. Neben dem Empfang stand ein Zwerg und musterte mich von oben bis unten mit einem ungläubigen, spöttischen Grinsen.
    Ich schlurfte die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, vorbei an Bediensteten, die darauf bestanden, meinen Schlüssel zu nehmen und das Zimmer aufzuschließen. Mir schien das weniger eine Geste der Gastfreundschaft als eine Sicherheitsprozedur. Das Zimmer roch leicht nach Zigarettenrauch und Urin, und ich legte mich schlafen, dankbar, endlich gefunden zu haben, wonach ich gesucht hatte.
    *
    Am nächsten Tag jedoch war der Zauber gebrochen.
    Da wir das Milieu von Zockern und Kleinkriminalität doch nicht so mochten, zogen wir um ins Honglou, ein nettes Hotel in der Nähe der Universität, mit Blick auf Linfens Trommelturm. Nachdem wir unser Gepäck abgelegt hatten, gingen wir, uns die Stadt ansehen.
    Falls Sie Angaben zu Trommeltürmen sammeln: Der in Linfen soll mit über 45 Metern der zweithöchste in China sein. Am Fuß des Turms fegte ein Arbeiter den Gehweg von einem hellen Staubteppich frei. Wieder fiel mir auf, wie staubig Linfen war. Selbst Autos, die nur einen einzigen Tag draußen gestanden hatten, waren von einem braunen Film überzogen. In der Lobby des Honglou hatte eine Frau einen Mopp gleichmäßig vor und zurück über die große Fläche des Marmorbodens bewegt, eine Sisyphusarbeit.
    Wir stiegen die staubigen Stufen des Turms hinauf. Innen betrachteten wir das verzierte Gewölbe. Trommel- und Glockentürme waren wichtige Wahrzeichen chinesischer Städte, Zeitmesser, die den Tagesverlauf anzeigten. Aber das ist inzwischen Geschichte. Wann genau sollte man den Sonnenuntergang in Linfen trommelnd verkünden? Wenn die Sonne im Smog versinkt? Oder etwas später, wenn man davon ausgeht, dass sie nun den Horizont erreicht hat?
    Vom Balkon aus schauten wir dem Verkehr zu, der im Kreisel um den Turm tobte. Richtung Süden, den viel befahrenen Boule vard der Trommelturmstraße hinunter, konnten wir nur ein paar Häuserblöcke weit sehen, dann verschwand der Verkehr im Dunst. Es war, als läge dichter Nebel über der Stadt – nur ohne das Neblige des Nebels, ohne Feuchtigkeit und Frische.
    In diesem Augenblick dämmerte es mir. Ich hatte dieses Gefühl. Ein gutes Gefühl. Den Eindruck, an einem interessanten, neuen Ort aufgewacht zu sein. Oh nein, dachte ich. Nicht schon wieder.
    War Linfen wirklich so schlimm? Es stimmt schon, der Smog war der smogigste Smog, den ich je gesehen hatte. Er kratzte im Hals und ließ einen die ganze Nacht husten.
    Und trotzdem. Ich hielt meine Kamera auf die Trommelturmstraße. Wenn ich die Stelle heranzoomte, wo die Gebäude sich im Dämmerlicht auflösten, wirkte Linfen bedrückend, unerträglich. Aber wenn ich wieder wegzoomte, sah Linfen aus wie … irgendeine Stadt.
    Später zeigte ich das Foto ohne Zoom meinem Freund James, um ihm zu beweisen, dass Linfen auf einer gefühlsmäßigen Ebene gar nicht so schlimm war. Er warf mir einen verschmitzten Blick zu und sagte, für ihn sehe das immer noch ziemlich schrecklich aus. Der

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