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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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wünschte, ich hätte vorher mein Gesicht waschen können.
    Aber der traurige Kohlekumpel war auf dem Trommelturmplatz nirgends zu entdecken. Vielleicht war er oben in den Bergen und schuftete in einem Bergwerk. Mit etwas Glück würden wir ihn später finden und könnten ihn fragen, was er gedacht hat, als das Foto gemacht wurde, und ob er mit dem weinenden Indianer aus diesem Anti-Müll-Video der 1970er befreundet war.
    Der Platz hatte noch mehr zu bieten. Hinter dem quasi Electric-Slide spielten ein paar Leute Hacky Sack. In diesem Teil der Welt verwenden sie einen schweren Federball, aber die Bewegungen sind dieselben: der Inside-Kick, der Outside-Kick, der Chest-Check und der Behind-the-Back. Der einzige Unterschied war, dass in Linfen – oder wahrscheinlich überall in China, das weiß ich nicht – Hacky Sack nicht nur von jungen Männern gespielt wird, sondern von Menschen allen Alters. Am besten waren die Omas, die spielten, als wären sie gerade auf dem Pausenhof des Hampshire College.
    Wir stupsten Spielzeug und Hasenluftballons beiseite und hockten uns vor eine Reihe Verkaufsstände. Dort hatte jemand etwas auf den Boden geschrieben. Mit langen Pinseln und Wasser führten ein paar Männer die Kunst der Kalligrafie auf den Steinen des Platzes aus.
    Das war zu viel des Guten. Die Charmeoffensive der Stadt war komplett. Am Trommelturmplatz alt zu werden war anscheinend ein Segen, wenn man die entsprechenden Lungen hatte. Hier, in der Smog-Hauptstadt der Erde, wurde mir klar, dass es mehr als nur eine Art von Gesundheit gibt.
    Manchmal überkommt mich, angesichts der Aussicht, in meinem eigenen Land alt zu werden, Verzweiflung. In den USA wird von Senioren erwartet, dass sie ihr Haus – oder zumindest die Parkbänke – nicht verlassen. Man sieht sie nicht gerade im Central Park Frisbee spielen. In Linfen hingegen treffen sich Alt und Jung auf dem öffentlichen Platz, singen alte Lieder und spielen Hacky Sack. Sie tanzen (unter anderem den Electric Slide) und passen auf ihre Kinder oder Enkel auf, die wie die Wahnsinnigen mit Plastikdreirädern herumkurven. Sie schreiben mit Wasser Gedichte auf die Gehwegplatten und sehen zu, wie sie verdunsten. Dieser Ort ist wirklich toll.
    Keine Sorge. Ich habe nicht vor, irgendetwas zu widerlegen. Wir ruinieren nach wie vor die Erde und die Umweltverschmutzung in Linfen ist immer noch entsetzlich. Der Grund, weshalb ich bei jeder Reise auf demselben Thema herumreite, ist nicht, dass die verschmutzten Orte der Welt nicht verschmutzt wären, sondern dass sie mir gefallen. Mir gefallen diese abscheulichen Orte, weil sie in vieler Hinsicht eben nicht abscheulich sind. Leben und arbeiten dort denn keine Menschen? Werden diese Orte etwa nicht vermisst, wenn jemand von dort fortgeht? Sie sind doch, trotz allem, schlicht und einfach Orte. Aber wenn wir zu Hause in unserem gemütlichen grünen Lehnstuhl Horrorgeschichten über sie lesen, verwandeln wir sie in etwas anderes, in Bühnen, auf denen sich unsere wildesten Ängste austoben können.
    Wir klammern uns auch an diese Extrembeispiele – Linfen, Port Arthur, Tschernobyl –, damit wir uns weismachen können, die Probleme seien dort. Und so soll es auch bitte schön bleiben. Für uns selbst hätten wir gern eine saubere kleine Insel und würden am liebsten eine Linie um ein paar Bäume ziehen und sagen: Bis hierher und nicht weiter. Wenigstens hier in diesen Grenzen soll die Natur überleben. Solange es den Yellowstone gibt, haben wir ein Trostpflaster für das, was uns quält. Was für ein Witz. Ein großer Teil unseres Umweltgewissens ist nur Ästhetik, eine schlichte Vorstellung davon, was schön ist. Doch diese Liebe zur Schönheit hat ihren Preis. Sie verstärkt die Gleichgültigkeit. Linfen ist zu abstoßend, um sich darum zu kümmern. Und auch Port Arthur ist einfach zu scheußlich.
    Ich mag diese miserablen Orte also. Die makellosen natürlich auch. Aber ich hasse den Gedanken, zwischen ihnen einen Unterschied zu machen. Und ich wünschte, mehr Menschen würden scheußlich für schön halten. Denn wenn nicht, verstehe ich nicht, warum wir uns um eine Welt sorgen sollten, in der so viel Hässliches ist.
    Einer der Kalligrafen vollendete ein großes Tableau wunderschön gemalter Buchstaben, und einige seiner Kollegen begannen eine heitere Kritik seines Werks. Ein älterer Mann mit dunkelgrüner Jacke und einer mit ein paar spärlichen Haaren verdeckten Glatze war auf uns aufmerksam geworden und trat auf uns

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