Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Amateurmeteorologe in ihm kam zum Vorschein: Er schätzte die Sicht auf dem Foto auf etwa vierhundert Meter. Genau wie in einem schweren Schneesturm.
Also lassen Sie sich nicht von mir erzählen, es sei nicht schlimm. Es ist schlimm. Richtig schlimm. Wahrscheinlich lauern chronische Atemwegserkrankungen und sogar Lungenkrebs überall in den Straßen und Gassen der Stadt. Schulkinder haben sicher mit heftigen Asthmaanfällen zu kämpfen. Und zweifellos veranschaulicht Linfen, worum es für die Menschheit heute geht. Aber wenn ich vom Trommelturm auf die Stadt hinunterblickte, sah ich nicht nur Smog, sondern auch Autos und Busse, Kentucky Fried Chicken und Menschen, die ihr Leben lebten.
Ich schob den Gedanken beiseite. Wir stiegen die Treppen hinunter und überquerten die Straße, um uns den großen Platz gegenüber dem Turm anzusehen. Der Trommelturmplatz, wie ich ihn nannte, war überladen mit Dekorationen für das Frühlingsfest. Überladen ist das einzig passende Wort. Riesige Mutantenhasen aus Draht und Stoff ragten über uns auf. Es war das Jahr des Hasen, und obwohl das Frühlingsfest – das chinesische Neujahr – schon vorüber war, grinsten uns die Comic-Hasen immer noch überall entgegen.
Das Hauptproblem an dem Platz war diese herzerwärmende Zurschaustellung eines gesunden öffentlichen Lebens. Hier und da fanden sich kleinere Grüppchen zusammen und sangen, of fensichtlich nostalgisch, alte kommunistische Hymnen. Passan ten versammelten sich im Kreis um Straßenmusiker. Im hinteren Teil des Platzes befand sich ein improvisierter Tanzsaal und Musik dröhnte aus Lautsprechern. Tanzpaare wirbelten in einer unorthodoxen Rumba herum. Ein Paar schwebte mit unheimlicher Leichtigkeit über den gepflasterten Platz. Das lange, schwarze Haar der Frau schwang auf dem lila Samt ihres Mantels hin und her.
Auch die Tanzmusik war ein altes Propagandalied, sagte Cecily. Die Kommunistische Partei hat das Volk gerettet, ging der Text. Am liebsten und teuersten sind uns die kommunistischen Soldaten.
»Die Leute nehmen diese Musik nicht mehr ernst«, erklärte sie.
Am südlichen Ende traf der improvisierte Ballsaal auf einen weiteren Tanzbereich, wo eine Reihe von etwa hundert meist älteren Menschen eine Variante des Electric Slide tanzte. Sie strahlten nur so vor sorglosem Amüsement. Wer waren diese glücklichen Bürger?
Und vor allem – wo war der traurige Kohlekumpel?
Wer der traurige Kohlekumpel ist? Gibt man bei der Google-Bildersuche »Linfen« ein, findet man ihn. Natürlich nennt niemand seinen Namen, deshalb ist er für mich einfach der traurige Kohlekumpel, und wenn es ein ikonisches Bild für Linfen gibt, dann dieses. (Den zweiten Platz belegt der ältere Bruder des traurigen Kohlekumpels, der Mann auf dem Fahrrad mit Mundschutz.)
Das Schicksal des traurigen Kohlekumpels ist es, einsam am Straßenrand zu stehen und für immer über unsere linke Schulter hinweg in die Ferne zu schauen. Der traurige Kohlekumpel ist jung und trägt eine schmutzige braune Jacke über einem schmutzigen braunen Pullover und einem schmutzigen schwar zen Hemd. Gesicht und Hals des traurigen Kohlekumpels sind mit Kohlenstaub bedeckt und er runzelt die Stirn. Ist das Bild sehr klein, sieht es aus, als würde er blinzeln, ja fast, als hätte er Schmerzen. Größere Versionen zeigen subtilere Emotionen. Seine Augen sind verdunkelt, aber nicht vor Schmerz, sondern aus Unsicherheit und wegen Zukunftsangst. Der traurige Kohle kumpel ist so traurig, dass er den Tränen nahe ist. Aber er kann nicht weinen. Sein Herz ist hart geworden durch ein Leben in der Stadt mit der schlimmsten Umweltverschmutzung der Welt. Der traurige Kohlekumpel müsste übrigens auch mal zum Friseur.
Ignorieren Sie den blauen Himmel hinter ihm. Mit dem trau rigen Kohlekumpel als Beweis, kann man nur zu einem Schluss kommen: Linfen ist ein Dreckloch, ein Ort, wo menschliche Würde nichts gilt, wo Menschen nicht einmal wissen, wie man sich wäscht, wozu auch? Sein Gesichtsausdruck und Erscheinungsbild sind so kalkuliert, dass sie in uns Herablassung hervorrufen. Schrecklich, wie sie dort leben müssen.
Wenn ich ihn mir jetzt anschaue, sehe ich in seinem Gesicht jedoch noch etwas anderes: Unsicherheit. Jemand hat ihm gesagt: Stell dich hierhin. Wir machen ein Foto von dir. Nicht in die Kamera gucken. Ich möchte wetten, der traurige Kohlekumpel hat nicht an die Misere von Linfen gedacht, als das Bild aufgenommen wurde. Wahrscheinlich dachte er: Ich
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