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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Tagesdecke. Die Zimmerdecke neigte sich in schwindelerregendem Bogen zur Seite.
    Ich lag reglos, wollte sterben und starrte kopfüber durch das Fenster. Jenseits der durchscheinenden Vorhänge explodierte ein gewaltiger, auf dem Kopf stehender ukrainischer Sonnenaufgang am Horizont, der mir fast den Schädel platzen ließ.
    Es war nicht die Strahlenkrankheit. Ich hatte einen schlimmen Kater und einen kleinen Sonnenbrand. Ansonsten konnte ich keinen großen Unterschied erkennen.
    Ich hatte das Nachtleben von Tschernobyl entdeckt. Auf dem Rückweg vom Weltkriegsdenkmal hatten wir das »Fahrzeugmuseum« besucht: ein ordentlicher, grasbewachsener Parkplatz mit einer Flotte von Militärlastwagen und Transportpanzern, die noch von der Aufräumaktion dort standen. Wir waren schon etwas bierselig und hatten eine Weile Spaß daran, unsere Messgeräte in den Radkasten eines Transportpanzers zu halten und uns ihr Gejaule anzuhören. Dann machten wir uns auf die Suche nach der Party.
    Wir fanden sie gegenüber der Zentralstelle, vor dem Hotel. Sie bestand aus Dennis, Nikolai und mir. Wir saßen auf einer Bank auf dem Parkplatz. Abgesehen von mir wohnte niemand im Hotel – eigentlich eher ein nettes Studentenwohnheim. (Sie können dort sicher immer noch ein Schnäppchen machen.) Ich ging auf mein Zimmer und brachte ein paar Geschenke hinunter: eine Kappe von den Mets für Dennis, zwei New-York-Pinnchen für Nikolai und eine Flasche Wodka für uns alle.
    Wir folgten der strengen Sitte, dass eine geöffnete Flasche geleert werden muss – obwohl Nikolai an dem Abend nichts trank und Dennis zu höflich war, um mich zu übertrumpfen. Ein Trinkspruch nach dem anderen schien mein Ukrainisch, Nikolais Englisch und Dennis’ Übersetzung flüssiger zu machen, und bald war nicht mehr klar, wer was sprach. Inzwischen war es stockdunkel, meine Ellbogen hatten, davon war ich überzeugt, Verbrennungen durch Betastrahlung erlitten, weil ich mich auf der Motorhaube abgestützt hatte, und irgend wie waren wir in einer Bar gelandet.
    In Tschernobyl gibt es eine Bar, dachte ich. Eine Bar in Tschernobyl.
    Wie wir dort hingekommen waren und wo sie sich genau befand, löste sich schnell im Alkoholdunst in meinem Kopf auf. Ich war sturzbetrunken. Ein Leben als moderater Trinker hatte mich nicht auf diese Aufgabe vorbereitet. Aber wenn das der Preis sein sollte – ich war bereit, ihn zu zahlen. Ich hatte Tschernobyls einzigen Nachtklub gefunden, auch wenn es nur ein nackter Betonraum war, in dem ein halbes Dutzend Gäste gemütlich Wodka und Cognac aus kleinen Plastikgläsern trank.
    »Na, Dennis, wie sieht’s aus?«, rief ich. »Kann man in der Zone gut Mädchen kennenlernen?«
    Er nickte wissend. »Hier gibt es viele Mädchen«, antwortete er. »Und sie sind alle über fünfzig.«
    Es ist ein abgedroschenes Klischee, dass man sich mit Slawen am besten anfreundet, indem man mit ihnen trinkt. Aber es stimmt. Wir verließen das Lokal wankend, die Arme einander um die Schultern gelegt, und das nicht nur, weil ich nicht mehr laufen konnte. Nikolai, immer noch nüchtern, tat seine Begeisterung über das Projekt eines Strahlen- und Umweltverschmutzungstourismus kund. Die meisten Menschen kamen nur nach Tschernobyl, um zwei Fotos zu machen, sagte er. Sie behandelten das Personal wie Diener und hauten wieder ab. Sie machten sich nie die Mühe, herauszufinden, was für ein angenehmer Ort die Zone sein konnte.
    Ich hob ein imaginäres Glas und torkelnd erreichten wir den Parkplatz, sangen aus vollem Halse ukrainische Lieder, sprangen in die Luft und klatschten uns ab. Ich sagte meinen Brüdern gute Nacht und fiel dann in einer einzigen flüssigen Bewegung die Treppe hinauf, den Flur hinunter, durch die verschlossene Tür in mein Bett. Dort erwachte ich am nächsten Morgen und fühlte mich wie ein Goldfischglas voll Galle.
    Zum Frühstück in der Zentrale gab es dieselben Antipasti wie am Abend zuvor. Ich führte ein Stück Käse in den Mund, befeuchtete es mit einem Teelöffel Wasser und beließ es dabei. Draußen warteten Dennis und Nikolai. Sie warfen nur einen Blick auf mich und brachen in Gelächter aus. Dennis gab mir die Hand und lächelte. »Das nächste Mal sag früher Bescheid, wenn du kommst«, empfahl er. »Dann zeig ich dir die wirklich interessanten Dinge. Vielleicht können wir dann sogar mit dem Hubschrauber fliegen.«
    Dieser Mistkerl. Ich konnte doch einfach länger bleiben, oder? War nicht noch Zeit für Kanus und Hubschrauber? Aber das

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