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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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man umzingelt. Auf der einen Seite ist Wasser, auf der anderen die summende, dröhnende Maschinerie petrochemischer Verdauung, ein rostiges Oz, durch das pro Stunde über dreieinhalb Millionen Liter Öl fließen. Von Orten wie diesem kommt unser Benzin, Kerosin und Plastik und so einiges andere, auf das wir nicht verzichten können. Port Arthur ist eine Raffineriestadt, in deren Adern Öl fließt, und deren Atem nach Toluol stinkt. Sie ist das stechend riechende Juwel in Nordamerikas petrochemischem Diadem am Golf von Mexiko, einer Region, aus der nahezu die Hälfte des Raffinationsvolumens des Landes stammt. Das amerikanische Energieministerium hat festgestellt, dass diese Region »die höchste Konzentration hoch entwickelter [Raffinerie-]Anlagen der Welt« aufweist.
    Ähnlich wie Fort McMurray hat Port Arthur den Ruf eines Drecklochs. Doch während sie es in Alberta geschafft haben, den Ölsandtagebau in diskretem Abstand zu halten, wird Port Arthur derart von seinen Raffinerien dominiert, dass nicht einmal ein flüchtiger Besucher sie ignorieren könnte. Die Innenstadt ist umringt von Stahlwäldern, die Tag und Nacht Schwefelschwaden ausstoßen. Es riecht nach faulen Eiern. Und gelegentlich werden bei Unfällen oder Betriebsstörungen Kraftstoffe und andere Raffinerieprodukte in die Atmosphäre freigesetzt. Die Gase strömen aus Rohren hoch über der Anlage und verbrennen. Jeder, der solche Abfackelungen einmal gesehen hat, beschreibt sie als beeindruckenden Anblick, eine künstliche Morgenröte, die den Himmel glutorange färbt.
    Vor allem werden ständig flüchtige organische Verbindungen wie Toluol, Benzol und andere Schadstoffe ausgestoßen, die – wie glaubwürdig dargelegt wurde – eine höhere Rate an Atemwegserkrankungen, Geburtsfehlern und Krebs verursachen. Und alle Jubeljahre einmal – wirklich nur ganz selten – zerstören die Anlagen sich selbst. Sie explodieren. Im Jahr 2005 starben bei einer solchen Explosion in Texas City, knapp 150 Kilometer westlich von Port Arthur, 15 Menschen und mehr als 170 wurden verletzt.
    Die hiesige Industrie ist das direkte Erbe des vom Lucas-Gusher ausgelösten Booms. Die Anlagen, die über Port Arthur aufragen, sind dieselben, in denen damals das Öl vom Spindletop verarbeitet wurde, nur dass sie durch ein Jahrhundert hin durch verändert wurden. Die Energieunternehmen Valero (des sen erste Raffinerie 1901 in Betrieb ging) und Motiva (1903) nehmen inzwischen fast so viel Fläche ein wie die gesamte Innenstadt von Port Arthur. Die Motiva-Raffinerie, die während meines Besuchs mitten in der Expansion steckte, ist dabei, die größte des Kontinents zu werden.
    Und trotzdem kann man über Port Arthurs Hauptstraße fahren, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Das Zentrum von Port Arthur verfügt mit seinen Ziegelfassaden an einem windigen Küstenkanal entlang über die geeignete Kulisse für eine charmante Kleinstadt. Aber es ist eben nur eine Kulisse.
    Dort gibt es keine Lebensmittelgeschäfte, keine Baumärkte – ich habe schlicht kein einziges Geschäft in Port Arthur gesehen, das überlebt hätte. Auch keine Banken. Ein leer stehendes Haus neben dem anderen. Die meisten sind mit Brettern vernagelt, ausgebrannt oder einfach nur verlassen. Irgendwie schafft es die in dieser Stadt angesiedelte Industrie, die Stadt selbst nicht zu erhalten.
    Wie überall in Amerika floh in den 1970ern und 1980ern die Mittel- und Oberschicht aus dem Stadtzentrum. Doch im Gegensatz zu anderen Städten hat hier die Existenz der Raffinerien die Wohlhabenden davon abgehalten, zurückzukommen. Das Ergebnis ist eine Gemeinde, die zu den ärmsten und am meisten mit Schadstoffen belasteten der USA gehört – und das, obwohl sie von milliardenschweren Konzernen umgeben ist. Der perfekte Ort, um Öl zu raffinieren, Giftmüll zu verbrennen und eine petrochemische Anlage zu erweitern: Hier ist man es schließlich gewohnt. Der Ort wird von der Industrie schon derart dominiert, dass niemand, der etwas zu sagen hat, mit Einwänden kommen wird.
    Die Viertel im Norden und Westen der Innenstadt sind arm und schwarz. Auf manchen Dächern sind die Hurrikanschä den vergangener Jahre immer noch nur notdürftig mit den blauen Planen des nationalen Katastrophenschutzes FEMA re pariert. Ich habe eine Plane gesehen, die mit einer anderen geflickt wurde. Und dahinter ragt der dichte Wald der Raffinerien auf.
    Der beste Ort, um im Zentrum von Port Arthur Mittag zu essen – womöglich der einzige –

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