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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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ist das Soul-Food-Restaurant Kelley’s Kitchen. Mit seiner orangefarbenen Markise und dem handgemalten lila Schild wirkt es wie eine Oase inmitten der verlassenen Grundstücke und vernagelten Gebäude. Das Innere ist ein einziger Raum mit einem lackierten Betonboden, einem halben Dutzend Tische, einer Theke und Stühlen an der Rückwand. Eine junge Frau namens Daisha servierte mir Shrimps, Okra und Würstchen mit einer Portion Reis, dazu Truthahnflügel und Maisbrot.
    Kelley’s Kitchen war nicht nur ein Restaurant. Es war das neueste Projekt von Hilton Kelley, Port Arthurs führendem Umweltaktivisten und Rundum-Naturgewalt. Normalerweise ist Soul Food kein Punkt auf der Umweltagenda, aber Kelley verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz. »Ich will Jobmöglichkeiten schaffen«, sagte er, als ich mich auf das Okragemüse stürzte. »Ich will der Gemeinde helfen. Ich will junge Leute ermutigen, sich Gewerbescheine zu besorgen, damit sie von der Straße wegkommen. Die Straße bringt einen schneller um als die Umweltverschmutzung.«
    Der große, kräftige Mann Anfang fünfzig versprühte eine zugleich großherzige und kämpferische Energie. Vor allem aber war er in Eile. Als ich ihm das erste Mal begegnete, saß er mit seinem Laptop an einem Tisch, aß und arbeitete gleichzeitig. Sekunden später war er draußen bei einer Gruppe von Helfern und hievte zwei Holzstände vor das Restaurant: Vorbereitungen für die bevorstehenden Karnevalsparaden – die einzige Zeit im Jahr, zu der Leben in die Stadt kommt. Kelley wollte »Essen, Hüte und was weiß ich nicht alles« an Passanten verkaufen. Einen Augenblick später waren wir wieder im Restaurant und Kelley wies mich auf die neue Tanzfläche an einer Seite hin. »Ich tanze gern. Deshalb habe ich mir einen Tanzboden gebaut.« Er war ein versierter Tischler. Überall im Füh rerhäuschen seines Pick-ups lagen Elektrowerkzeuge. Vor allem aber hatte er sich dem Kampf für die Umwelt in Port Arthur verschrieben. Seine Organisation, die »Community In-Power and Development Association« (Kommune im Aufbruch) hatte vor Kurzem den Transport von Leiterplatten aus Mexiko zu einer nahe gelegenen Verbrennungsanlage blockiert. Sie hatte außerdem gegen die Expansion der Motiva-Raffinerie gekämpft, sie gestoppt und Zugeständnisse des Konzerns bei den Kontrollmessungen und den Investitionen in die Ge meinde erzwungen.
    Kelley arbeitete zusätzlich in der »Southeast Texas Bucket Brigade«, einer Gruppe, die gegen die massiven Defizite von Industrie und Regierung eigenständig Messungen der Luftqualität durchführt. Die offiziell erhältlichen Zahlen zu den Raffinerieemissionen basieren – wie ein Anwalt der Umweltbewegung mir mitteilte – nämlich nicht auf tatsächlichen Messungen, sondern auf Schätzungen der staatlichen Umweltschutzbehörde EPA  – Schätzungen, die unter Umständen Jahrzehnte alt sind. Daher ist es fast unmöglich zu sagen, was jede Woche aus den Raffinerien herauswabert.
    »Die Schadstoffbelastung!«, sagte Kelley. »Schwefelwasserstoff. Benzol, das als krebserregend bekannt ist. 1,3-Butadien. Ab und zu gibt es Explosionen, dass die Fensterscheiben scheppern. Manche Menschen leben mit Tanks zwanzig Meter hinter dem Grundstück. Wenn so ein Ding in die Luft fliegt, fackelt es praktisch ein ganzes Viertel ab.« Für die staatliche Aufsichtsbehörde hatte er starke Worte – »Die sollen einfach mal ihren Job machen!« –, genauso für die EPA . Im Handum drehen hatte Kelley sich in einen Einmann-Poetry-Slam verwan delt und performte ein Stück mit dem Titel »Meine toxische Wirklichkeit«, das er nach einer schlaflosen Nacht geschrieben hatte, in der er dem Klappern seines Hauses während einer Abfackelung in der Nähe lauschte.
    Wir fuhren gemächlich mit Kelleys Pick-up durch das westliche Port Arthur, machten die von ihm so genannte »toxische Tour« durch die Stadt. Bis 1965 ungefähr hätten die Afroamerikaner wegen der Rassentrennung nirgendwo anders leben dürfen als im westlichen Teil der Stadt. Nicht zufällig lag dieser näher an den Raffinerien als alle anderen, eingeklemmt zwischen Valero und Motiva.
    Beim Fahren erzählte mir Kelley seine Lebensgeschichte mit der Gewandtheit von jemandem, der es gewohnt ist, mit Journalisten zu sprechen. Er wuchs in den 1960er- und 1970er-Jahren in Port Arthur auf, ging dann zur Marine und landete schließlich in Kalifornien, wo er Schauspieler und Stuntman wurde. 2000 kehrte er erstmals zum Karneval nach Port

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