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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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entwickelte sich zum Erdölmekka. Der Ölboom in Texas hatte begonnen.
    Damals existierte in den USA bereits eine Ölindustrie. Sie war von John D. Rockefeller und seinen Zeitgenossen nach Funden in Pennsylvania in den späten 1850ern aufgebaut worden. Aber zu jener Zeit spielte Öl längst keine so große Rolle wie heute. Der Verbrennungsmotor steckte noch in den Kinderschuhen, Plastik war Jahrzehnte entfernt und Benzin galt als uninteressantes Nebenprodukt der Raffination. Petroleum, das erste hell leuchtende und sauber verbrennende Lampenöl, war das wirklich heiße Ding.
    Der Lucas-Gusher produzierte so viel Öl, dass niemand et was damit anzufangen wusste. Bohrloch um Bohrloch wurde in einer Bohr- und Spekulationsorgie in den Spindletop getrieben und Hunderte neuer Ölgesellschaften wurden gegründet. Wahr scheinlich kennen Sie Namen wie Texaco, Humble (inzwischen ExxonMobil) und Gulf (heute Chevron). In Beaumont sank der Wert eines Barrels Öl unter den derselben Menge Wasser, so be trächtlich war das Überangebot. Die Situation wurde dadurch erschwert, dass dieses neue texanische Rohöl für Petroleum schlecht geeignet war. Und selbst wenn: Die Ära der Petroleum lampen neigte sich bereits dem Ende zu. An ihre Stelle traten elektrische Glühbirnen.
    Die Ölindustrie brauchte neue Märkte, doch was sie schließlich hervorbrachte, war eine neue Kultur. Die Dominosteine fielen fast sofort. Zuerst kam die Eisenbahn: 1901 besaß die Santa Fe Railroad eine einzige ölbetriebene Lokomotive, vier Jahre nach dem Lucas-Gusher waren es 227. Auch die Dampfschiffe im Golf von Mexiko reihten sich nach dem Umstieg auf Heizöl ein, um von dem Überfluss zu profitieren. Landwirtschaft und Produktion in Texas wurden mechanisiert, sie waren das Versuchsfeld für eine auf Öl basierende Wirtschaft. Es dauerte nicht lange, und das Muster wiederholte sich auf der ganzen Welt. Dass auch die Marine auf Öl umstieg, machte die plötzliche zentrale geopolitische Bedeutung des Erdöls für das noch junge 20. Jahrhundert deutlich.
    Und dann war da das Automobil, das in unheimlicher Synchronizität mit der herannahenden zweiten Welle der Ölindus trie groß wurde. Verschiedene Energiequellen waren für das Fahrzeug erwogen worden, darunter auch Elektrizität, doch durch die neue Verfügbarkeit des Öls machte der Verbrennungsmotor das Rennen. Das texanische Rohöl ließ sich wun derbar zu Benzin raffinieren. Zuvor nichts weiter als ein Abfallprodukt, stand es nun als Energiequelle des neuen Zeitalters auf gleicher Stufe mit dem Heizöl. Es war an der Zeit, die Straßen Amerikas und der Welt zu befestigen.
    Im Laufe des folgenden Jahrhunderts wurde das Erschließen neuer Märkte – neuer Verwendungen, neuer Produkte und neuer Produkt typen  – zu einer Spezialität der Ölunternehmen. Vom Ölüberfluss auf dem Spindletop zur heutigen Allgegenwart des Erdöls führt eine direkte Linie. Jeder Ölunternehmer und jeder Naturschützer kann Ihnen sagen, dass das schwarze Gold in jeden Winkel unseres Lebens sickert – unserer Haushalte, unserer Wirtschaft, unserer Politik. Nahezu alles, was wir tun, vom Tourismus bis zum Krieg, wird von ihm angetrieben. Damit erzähle ich Ihnen nichts Neues. Wir leben von und durch Öl, und diese Tatsache ist für über ein Drittel der weltweiten CO 2 -Emissionen verantwortlich. Im Zeitalter des menschengemachten Klimawandels ist Öl insofern wohl die elementarste Ursache für Umweltverschmutzung.
    Doch an jenem Januarmorgen des Jahres 1901 auf dem Spindletop war das alles noch Zukunftsmusik. Niemand wusste, dass die Grundlage des 20. und 21. Jahrhunderts Erdöl sein würde. Nie zuvor hatte es einen Blowout gegeben. Niemand wusste, dass aus einem Bohrloch ein glitzernder, grün-schwarzer Geysir hervorschießen konnte. Noch nie hatte jemand im Ölregen getanzt. Als Lucas die donnernde Fontäne, die seinen Namen unsterblich machen würde, schließlich sah, rief er: »Was ist das?«
    *
    Der späte Nachmittag ist eine gute Zeit, um von Port Arthur nach Houston zu fahren. Man kommt bei Sonnenuntergang an und sieht vor einem blasslilafarbenen, allmählich dunkler werdenden Himmel in der Ferne die Lichter und Türme der Stadt: ein flimmerndes Manhattan am Wasser, dort, wo Texas dann doch lieber Louisiana sein möchte.
    Doch was man dort sieht, ist keine Stadt. Beim Näherkom men wird deutlich, dass die Gebäude die Spitzen und Türmchen von Industrieanlagen sind. Genauer gesagt, von Raffinerien.
    Schon bald ist

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