Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Styroporbrocken und weggeworfenen Fischer netzen, die wie riesige Quallen an der Wasseroberfläche lauern, bis hin zu mikroskopisch kleinen Pellets, die im Wasser treiben wie künstliches Plankton, ist diese Müllsammlung ein gewaltiges Plastikabbild seines Wirts, des echten Meeres. Und eben weil sie so komplex ist und fernab vom Land, weiß man so wenig darüber.
Niemand kann mit Sicherheit sagen, woher all das Zeug kommt, aber man ist sich weitgehend einig, dass es vor allem vom Festland stammt. Eine überraschend große Menge Abfall landet nicht auf der Deponie, sondern gerät ins Meer – über Gullys, Flüsse oder andere Wege.
Da Gegenstände aus Plastik – wenn überhaupt – nicht so schnell zerfallen, haben sie viel Zeit, in die Meeresströmungen zu gelangen. Eine Plastikflasche, die vor San Francisco von der Strömung ergriffen wird und in den Pazifik loszieht, treibt vermutlich zuerst in südlicher Richtung, passiert die Längengrade von Mexiko und sogar Guatemala, wo sie nun, gepackt vom subtropischen Nordpazifikwirbel, wirklich in Richtung Westen schwimmt. Dieser riesige, gegen den Uhrzeigersinn drehende Wirbel nimmt die Flasche geradewegs mit hinüber zu den Philippinen, schleudert sie dann nach Norden, bis kurz vor Japan in Richtung Taiwan, und spuckt sie schließlich wieder zurück, an Alaska vorbei nach Nordamerika.
Immer im Kreis dreht sich der Wirbel, und die Plastikflaschen und Schutzhelme des Nordpazifik vermutlich mit ihm, bis sie am Ende in den windstillen Zonen landen und sich an den östlichen und westlichen Enden dieses Meeresfließbands drehen, den Wirbeln, die als Eastern und Western Garbage Patch bekannt sind. (Der östliche bekommt die ganze Auf merksamkeit, weil er näher an den Vereinigten Staaten liegt und zuerst entdeckt wurde.) Hier trifft unsere Plastikflasche ihre Freunde: all die Plastikteile, die seit wer weiß wann im Ozean herumtreiben. Hier warten sie nun, Jahr um Jahr, werden durch die Wellenbewegung in Bruchstücke zerlegt, erwürgen hilflose Pelikane, ersticken übereifrige Albatrosse, die das Plastik für Futter halten, oder werden von Fischen verspeist.
Und schließlich kommen die Wissenschaftler und Abenteurer. Was immer sie auch aus unserer Geschichte des Plastiks suchen, das im Wasser treiben kann, im Nordpazifik werden sie garantiert fündig: unsere Flaschen, unsere Planen, unsere zerplatzten Luftpolsterfolien, die kleinen Perlen aus dem Gesichtspeeling – auf all das kann man hier Jagd machen.
So hoffte ich zumindest. Aber wie sollte ich das herausfin den, solange dort noch keine Kreuzfahrtschiffslinie durchführte? Was uns zu einem anderen interessanten Punkt in Bezug auf den Müllteppich bringt: Kaum jemand hat ihn tatsächlich gesehen. Man braucht eine Menge Hochsee-Erfahrung, um dort hinauszufahren. Und es gibt praktisch keinen Grund, sich diese Mühe zu machen. Die meisten steuern mit ihrer Jacht lieber Hawaii, die Bahamas oder irgendetwas anderes an. Der Müllteppich hingegen befindet sich, bedingt durch die Art seiner Entstehung, mitten im größten Nirgendwo der Erde.
Einige Expeditionen waren im Sommer 2009, zu diesem Wirbel aufgebrochen, deshalb hängte ich mich ans Telefon und nervte alle, um einen Platz bei einer dieser Reisen zu bekommen. So stieß ich auf das Kaisei-Projekt.
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Die Kaisei lag im Hafen von Point Richmond, auf der Seite der Bucht, die San Francisco gegenüberliegt. Die rund 45 Meter lange, rahgetakelte Brigantine mit Stahlrumpf stach hervor. Denken Sie sich ein metallenes Piratenschiff, dann müssten Sie das richtige Bild vor Augen haben. Das Schiff ist Namensvetter und schwimmender Dreh- und Angelpunkt des Kaisei-Projekts, eines Non-Profit-Unternehmens, das sich dem »Erfassen des Plastikwirbels« widmet, so sein Motto. Irgendwie hatte ich Mary Crowley, eine der Projektgründerinnen, überzeugt, mich auf eine dreiwöchige Reise zu diesem Tausende Kilometer entfernten Plastikwirbel mitzunehmen, aber was das Erfassen anging, hatte ich meine Zweifel.
Vor allem, wenn wir nicht losfuhren. Schon seit über einer Woche war ungewiss, wann wir wohl die Anker lichten würden. Wurde schließlich ein Abfahrtstag verkündet, begann er jedes Mal damit, dass entweder die neue Radaranlage fehlte, ein Koch angeheuert oder weitere Vorräte geliefert werden mussten, und wir brachen doch noch nicht auf.
In der Zwischenzeit erschien täglich ein Teil der Crew, um das Schiff zu schrubben, die Rostlöcher zu flicken, die blaue Farbe am Rumpf
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