Willkommen im sonnigen Tschernobyl
aufzufrischen oder eine zusätzliche Rettungsinsel zu installieren, und ich hatte Zeit, gemischte Gefühle gegenüber der Kaisei zu entwickeln. Seit ich sie das erste Mal betreten hatte, stellte sich bei mir Aufregung mit einem Anflug verdammt mulmigen Gefühls ein. Das Schiff besaß zwei große Masten, am vorderen prangten vier Rundhölzer: die Rahen mit den majestätischen Rahsegeln daran, wie aus einer Lord-Nelson-Biografie. Dutzende Taue und Seile – nein, Trossen und Leinen, wie wir lernten – führten von hölzernen Belegnägeln auf dem Deck in die Höhe; die einen dienten dazu, das Segel einzuholen, andere, es zu hissen; es gab Tauwerk, mit dem die Rahen nach steuerbord oder backbord ausgerichtet wurden; Tauwerk, um die Spiere der Gaffelsegel zu hissen oder zu bergen; Tauwerk, um die Seilrollen zu heben oder senken, die wiederum mit weiterem Tauwerk verbunden waren.
Würde ich diese Masten hochklettern und mich in den Rahen in ungefähr dreihundert Metern Höhe vortasten müssen? Wie die meisten vernünftigen Menschen habe ich keine Höhen angst – nur Angst, hinunterzufallen und zu sterben; es ist also im Grunde genommen gar keine Angst, sondern eine vollkommen rationale Haltung. Andrerseits, worin liegt der Sinn, auf einem Großsegler zu sein und seine Größe nicht zu erleben? Wenn man mich anweisen würde, nach oben zu steigen, würde ich meine Angst überwinden, oder zumindest übergehen, und mich dazu zwingen, so viel stand fest. In Wirklichkeit fürchtete ich daher, nicht genug Angst zu haben.
Das passte wunderbar zu meiner Gesamtsituation: Statt eine nette, kleine Spritztour mit einem Presseboot oder einem richtigen Forschungsschiff zu machen, ging ich für drei Wochen oder länger auf See – weit hinaus aufs offene Meer. Dabei wollte, sollte ich doch eigentlich zu Hause in New York sein, meine Hochzeit organisieren, mich auf den glücklichen Moment in nur zwei Monaten vorbereiten, wenn die Frau Doktor und ich in den Hafen der Ehe einlaufen würden. Und die Kaisei würde auf hoher See völlig unerreichbar sein. Für die Crew sollte es keine Satellitentelefone geben, keine Datenverbindung, keine Möglichkeit, mit der Familie oder der Frau Doktor zu kommunizieren. Einmal unterwegs, würde ich mich nicht einmal dafür entschuldigen können, dass ich fort war.
Das Schiff selbst war zwar ein bisschen verwahrlost, aber charmant, mit gemütlichen, doch nicht allzu beengenden Kajüten, zwei für eine kleine Mannschaft ausreichenden Aufenthaltsräumen und verblichenen Holzplanken an Deck. Vor dem Steuerhaus mit Funk- und Radargerät befand sich eine offene Brücke, wo das Deck sich zu einer Plattform mit einem großen Speichenrad erhob – ein Steuerrad wie aus einem Fischrestaurant.
Das Problem war nicht die Kaisei . Das Problem waren wir. Im Laufe der Tage, die mit Schmirgeln, Malen und dem Abladen von nicht benötigter Forschungsausrüstung der letzten Reise vergingen, lernte ich die Crew aus Freiwilligen kennen. Wie viele Menschen braucht man, um eine 45-Meter-Brigantine zu segeln? Wir waren zehn Mann, wenn überhaupt. Und als wir uns einander vorstellten, stellte sich heraus, dass nur sehr wenige von uns etwas wussten, das für die sichere Handhabung besagten Zweimasters von Nutzen war.
Nehmen wir zum Beispiel Kaniela, ein freundlicher junger Surfer aus Hawaii und einer derjenigen, die auf dem Schiff am härtesten arbeiteten. Er fragte mich, ob ich viel übers Segeln wüsste.
»Nein«, antwortete ich, »kein bisschen. Und du?«
»Nee, Mann. Ich will’s hier lernen.«
Dann waren da noch Gabe und Henry, zwei Hipster frisch vom Oberlin-College. An dem Morgen, als ich ihnen das erste Mal begegnete, trugen sie Sonnenbrillen und standen, die Hände in die Taschen gesteckt, wegen der morgendlichen Kälte dicht aneinandergedrängt herum. Mir schienen die beiden ziemlich missmutig, bis sie offenbarten, dass sie bloß einen schlimmen Kater hatten. Bis Mittag hatte ihre Laune sich aufgehellt. Sie sagten, sie hätten Umweltwissenschaften oder so etwas Ähnliches studiert. Nachdem sie aus Ohio zurück nach Kalifornien gezogen waren, hatten sie Praktikumsplätze am Ocean Voyages Institute bekommen, der Dachorganisation des Kaisei-Projekts. Drei Wochen auf See erschienen mir allerdings etwas extrem für ein Praktikum. Ich fragte, warum sie mitfuhren.
Gabe erklärte ohne Umschweife, er sei wegen des Abenteuers hier. Er wollte Abenteurer sein. Ein verwegener Draufgänger, genauer gesagt. Und das hier war
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