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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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der erste Schritt auf dem Weg dorthin.
    Die Delirien eines kranken Geistes. Ich fragte Henry, ob einer von ihnen segeln konnte.
    Er lächelte. Ein dünnes Lächeln, fast nur ein Zucken der Mundwinkel. Sie hätten Segeln in der Highschool gehabt, sagte er. Mit kleinen Zweimannbooten.
    Was für ein Gefühl kroch da in mir hoch? Mutlosigkeit? Ich fragte mich von einem Freiwilligen zum nächsten und sor tierte im Kopf unsere Qualifikationen. Wir hatten viele Wassersportler und Lehrer, die Naturwissenschaften unterrichtet hatten, dabei, ansonsten von allem etwas. Einen Bootsbauer, einen ehemaligen Journalisten, ein paar Studenten … Alles interessante, nachdenkliche, hart arbeitende Menschen, die jedoch keine Ahnung davon hatten, wie man einen Großsegler segelte.
    Ich setzte all meine Hoffnung in den zweiten Offizier, einen ruhigen, selbstsicheren Mann mit Erfahrung auf Großseglern. Er kündigte. Nach nur einem Nachmittag an Bord sagte er dem Kapitän, dass ihm so einiges auf dem Schiff nicht gefiele, und machte sich aus dem Staub.
    Da war es wieder. Das verdammt mulmige Gefühl.
    Die Misstrauensbekundungen häuften sich. Ein Team der Küstenwache in den typischen blauen Anzügen kam, um die Schiffspapiere zu überprüfen. Als sie schmunzelnd wieder gingen, hörte ich den Kapitän der Kaisei sagen: »So etwas haben sie noch nie gesehen.«
    Je mehr ich über die Kaisei erfuhr, desto klarer wurde mir, dass sie vom technischen Standpunkt gesehen eine Kuriosität war. Eines Abends saß ich mit dem Schiffsingenieur auf dem Achterdeck, sah den vorbeifahrenden Schleppern von Richmond zu und hörte mir seine Klagen an. Sofern wir ein Interesse daran hatten, dass das Schiff seetüchtig blieb, wir frisches Wasser hatten und die Navigationsgeräte funktionierten, war der Ingenieur wohl der wichtigste Mann in der Crew. Abend für Abend war er lange aufgeblieben, um die technischen Anlagen des Schiffs in Schuss zu bringen. Er war mürrisch, aber ich hielt das für ein gutes Zeichen. Wer will schon einen Laisser-faire-Ingenieur?
    Die Kaisei, erklärte er mir ziemlich verzweifelt, war in Polen gebaut und in Japan überholt und genutzt worden. Alles war auf Polnisch oder Japanisch. Und dann die Elektrizität. Er schüttelte den Kopf. Diverse Standards und verwirrend viele verschiedene Stromspannungen. Die Unregelmäßigkeiten gingen bis ins Detail: Manche Schrauben und Muttern waren metrisch, andere nicht, sodass unterschiedliche Werkzeugsets benötigt wurden, wobei keines der vielen an Bord der Kaisei vollständig war.
    Der Techniker nahm einen Schluck aus seinem Becher und seufzte schwer. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich bin betrunken.«
    Nach ein paar Tagen hatte auch er gekündigt.
    Wir hatten nun weder einen zweiten Offizier noch einen Ingenieur und keiner von uns unbedarften Freiwilligen – die Crew – wusste, woran zur Hölle wir waren. Jeder Tag Verzögerung verkürzte die Reise: In knapp drei Wochen sollte die Kaisei am San Diego Festival of Sail teilnehmen, wo wir all die Fans von Großseglern mit unseren Plastikabenteuern auf See umhauen wollten. Jeder Tag im Hafen war also ein Tag, den wir nicht im Wirbel verbrachten. Uns kamen langsam Zweifel, ob wir den Hafen jemals verlassen würden. Und als sich nun Tag für Tag erfahrene Crewmitglieder verabschiedeten, überlegte auch das Fußvolk, ob es nicht klüger wäre, von Bord zu gehen.
    Doch etwas hielt uns zurück. Etwas, das all die bösen Omen aufwog. Ein einziger Faktor, der die gesamte Crew bei der Stange hielt.
    Der Piratenkönig. Er hieß Stephen und war formal der erste Offizier, aber ich stellte ihn mir als unseren Piratenkönig vor. Als einzelner Mann mit ungeheuer fundierten Kenntnissen über die Seefahrt glich er die beängstigenden Defizite der übrigen Crew aus. Er war gedrungen, fast klein, aber fit und stark, trug einen dichten Bart und im linken Ohr zwei goldene Ringe, und für den Fall, dass wir schwer von Begriff waren, eine schwarze Baseballkappe mit einem Totenkopfemblem.
    Die Kaisei hatte einen Kapitän, aber aus Hochachtung vor dem Piratenkönig, der diese ganz spezielle, auf überwältigendem Wissen basierende Männlichkeit verkörperte, ignorierten wir ihn größtenteils. Unser Pirat konnte navigieren, Knoten machen, ein Segelschiff takeln, mit nur einer Hand über die Rahen balancieren, die Stagen hinunterrutschen wie Douglas Fairbanks, also in Sekundenschnelle an Deck landen. Er verwendete nie Sicherheitsgurte und wusste, wie er die Stirn

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