Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Maschinenantrieb direkt in den Wind, die schlaffen Segel flatterten heftig. Sie würden bestimmt in Fetzen gerissen.
Im Dunkeln mühten wir uns mit den Focksegeln ab. Um uns herum war nur Gischt, die dicken Seile zuckten und peitschten wie wild. Wir waren zu sechst am Bug, vier von uns auf dem Bugspriet – dem langen, über das Wasser ragenden Rundholz – und zwei an Deck direkt am Bugspriet.
Ich war an Deck und tastete blind nach den Niederholern und Zeiseln, mit denen die Segel eingeholt und befestigt wurden. Nach Wochen auf See wusste ich, wonach ich suchte – was nicht hieß, dass ich es fand.
Das Schiff hob sich auf den Kamm einer großen Welle. Wir spürten, wie der Bug immer höher in den Nachthimmel stieg. Ganz oben schien er für einen Augenblick anzuhalten und uns in der salzigen Luft schweben zu lassen.
Dann stürzten wir hinab. Das Schiff tauchte mit dem Bug tief hinein in die heranrollende Welle. Die vier auf dem Bugspriet – meine Freunde – verschwanden im Wasser, die Gischt schlug über ihren Köpfen zusammen. Waren sie angeseilt? Das Deck ging mit ihnen in die Tiefe. Das Wasser tobte mir um die Hüften, zerrte an mir und ließ mich nach achtern schlittern. Robin ergriff meinen Arm und ich die Reling, damit wir nicht umfielen. Ich sah zum Bugspriet und dachte: nichts als Schaum.
Eine Sekunde später durchbrach das Schiff die Woge, und ich sah sie. Sie waren noch da, alle vier, und hielten den Bugspriet umklammert. Ich zählte sie noch einmal. Waren es vorher mehr gewesen?
»Sind alle da?«, schrie ich. »Sind alle an Bord?«
Doch sie arbeiteten schon wieder, packten die Segel und brüllten wie Bullenreiter. Wasser strömte ihre Jacken hinunter.
Robin ließ los und wir widmeten uns wieder dem Leinengewirr zu unseren Füßen. Mir schwirrte das Bild im Kopf, wie das Wasser auf uns zukommt, die See das Schiff erobert, und spürte das Wasser noch an meinem Körper zerren, eine überwältigende Kraft, die um uns herumwirbelte, die fremdartige Schwerkraft eines anderen Universums, des gnadenlosen, schwarzen Ozeans.
*
Wahrscheinlich haben Sie schon von dem Great Pacific Garbage Patch gehört: einer Insel aus Abfällen, gebildet von einem gigantischen Meereswirbel, dessen Strömungen all das auf ewig in der Nordhälfte des Pazifik treibende Plastik in einem endlos kreisenden Fegefeuer sammeln – einem sich selbst erweiternden Plastikkontinent, zweimal so groß wie Texas.
Um es gleich klarzustellen: Es ist keine Insel.
Ich wiederhole: Es. Ist. Keine. Insel.
Es ist keine feste Masse, kein schwimmender Müllhaufen, keine Deponie. Aber es existiert . Zum ersten Mal wurde es 1997 von dem Segler und Umweltschützer Charles Moore gesichtet, der in der Folge seine Non-Profit-Organisation, die Algalita Marine Research Foundation, darauf ausrichtete. Dank Moores Beobachtungen trat der pazifische Müllstrom kurz nach der Jahrtausendwende ins allgemeine Bewusstsein. Wer für das bestechende Bild einer Plastikinsel verantwortlich ist, weiß ich nicht. Aber derjenige sollte zur Strecke gebracht werden und eine ordentliche Abreibung bekommen. Außerdem sollte jeder – ausnahmslos jeder – zu einer exorbitanten Geldstrafe verdonnert werden, der diese Nicht-Insel als »so groß wie Texas« oder »zweimal so groß wie Texas« beschreibt. Bei meiner vorbereitenden Recherche war es nahezu unmöglich, irgendeinen Beitrag über den Müllteppich zu finden, in dem Texas nicht erwähnt wurde.
Warum Texas? Gibt es kein anderes Territorium, das als leserfreundlicher Richtwert dienen könnte? Ist die Zunft der Schreiberlinge inzwischen so verarmt, dass sie sich nicht einmal mehr die fünf Sekunden leisten kann, die es braucht, um ein originelles Juwel wie »dreimal so groß wie Kalifornien«, »zweimal Nevada und einmal Arizona« oder »fast so groß wie Alaska, wenn man die Aleuten weglässt« zu googeln?
Doch das eigentliche Problem ist: Man weiß, dass sich zwei Texas’ über 1 300 Quadratkilometer erstrecken, aber niemand kennt die tatsächliche Größe des Müllteppichs. Im Gegensatz zu Texas, und, wichtiger noch, im Gegensatz zu einer Insel, hat er nämlich keine klar definierte Grenze, sondern bezeichnet nur ein allgemeines Gebiet. Also sagen wir einfach, er ist groß, und lassen es damit gut sein.
Eine passendere Analogie wäre die eines Ökosystems, wobei System hier das Schlüsselwort ist, denn es impliziert etwas sehr viel Komplexeres als ein einfaches schwimmendes Objekt. Von thunfischgroßen
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