Willkommen im sonnigen Tschernobyl
wir an der Reling, starrten in die Lichtflecken, die vorn über das steigende, fallende, heranbrausende Wasser flimmerten. Bei unruhiger See erschien der Bug dadurch in faszinierendem Zwielicht, und ich beobachtete, wie die Bugwellen zur Seite brachen, und sah hinauf in die großen Rahsegel der Kaisei, straff gegen die Nacht gespannt.
Doch wenn wir nicht in diese träumerische Stimmung hineinkamen, maulten einige von uns herum. Was genau sollte das alles bringen?
Unser Ziel war es nicht, Abfall zu vermessen oder in irgendeiner sinnvollen Weise zu registrieren, sondern schlicht, ihn zu finden . Wir suchten nach dem, was Mary die »Müllströme« nannte, schmale Strömungslinien mit hohem Müllaufkommen. Mary sprach immer wieder über die Müllströme, und mir wurde klar, wenn wir die Kaisei voller Müll wieder in den Hafen zurückbrächten, wäre dies die Bestätigung ihres Traums von der Reinigungsaktion. Und dazu mussten wir die Hauptader finden.
*
Die Tatsache, dass es unmöglich ist, auf dem Meer in geraden Linien zu steuern, veranschaulicht letztlich nur die Wahrheit, dass es keine geraden Linien gibt. Nichts ist gleichmäßig, nichts konstant. Am allerwenigsten die Schwerkraft. Früher einmal glaubte man naiv, die Schwerkraft zeichne sich durch eine einheitliche Stärke und Richtung aus. Willkommen an Bord der Kaisei, wo diese Schwerkraft zufällig, unberechenbar und ständig wechselnd ist. Man probiere nur einmal, dort eine Teetasse hinzustellen. Alle ebenen, sonst so nützlichen Flächen der Welt sind jetzt Startbahnen für das Getränk, das ungebeten in die Luft springt, wieder landet und sich tröpfelnd auf die Suche nach einer niedrigeren Ebene begibt. Will man eine Tasse – ein Buch, einen Laptop – auf dem Tisch oder einer Ablage abstellen, sollte man den Gegenstand fixieren wie einen Verrückten ans Bett.
Alles, worauf das tägliche Leben unter normalen Umständen basiert, ist nun wie auf Treibsand gebaut. Ich gehe auf die Toilette und pinkele. Der Urin beschreibt einen seitlichen Bogen von mir weg (genau genommen biege ich mich von ihm weg), zuerst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links. Die natürlich fallende Kurve des Strahls und die neu entdeckte Unfähigkeit, aufrecht zu stehen, machen in dieser Situation komplizierte Berechnungen nötig, um sicherzustellen, dass nicht das meiste auf dem Boden landet.
Nachdem die Toilette ihre Taufe hinter sich hat, geht es in den unteren Aufenthaltsraum. Die Welt dreht sich. Man rammt die linke Wand des Flurs, die rechte, die linke … und stellt bald fest, dass man in Wirklichkeit eine gerade Linie läuft, und es der Flur ist, der sich so aggressiv verhält. Man muss lernen, seine Angriffe zu parieren.
Schließlich schafft man es in den unteren Aufenthaltsraum zu einem ruhigen Päuschen auf einer gepolsterten, am Schiffsrumpf festgeschraubten Bank. Wie die meisten Räume unter Deck pulsiert er durch die Vibration der Maschinen und die Bewegung des durch den Ozean pflügenden Schiffs. Und da sitzt man nun und sieht einen Film auf irgendeinem Laptop – There Will Be Blood weckt Erinnerungen an Spindletop – und spürt, gerade weil man versucht, ruhig dazusitzen, deutlicher als irgendwo sonst, wie die Kraftlinien der Erde, die einst so gleichmäßig und parallel erschienen, nun schwingen, sich win den und den Raum in einen willkürlichen, verrückten Ort verwandeln. In einem Moment wird man gegen die Sitzpolster gepresst, im nächsten schnellt das Weltpendel zurück und man wird einen Zentimeter in die Luft geschleudert. Eine Stunde später ist das Gesicht wachsweich geworden und der Magen, der über die Jahre so viel von einem bekommen hat, möchte nun auch einmal etwas zurückgeben.
Hört das denn niemals auf? Drei Wochen lang sollen die Schweißnähte des Schiffsrumpfes sich auf und ab und hin und her ziehen?
Nun braucht man seine Koje und wankt zum anderen Ende des finsteren brutalen Gangs, zurück in die Kajüte, murmelt etwas in Richtung der schlafenden Umrisse der Kajütenkollegen und dann ist man zu Hause, kann sich, umgeben von Kleidungsstücken, Decken und Tüten mit Mandeln, im hölzernen Bauch des Bettes verkriechen.
Ich rollte mich zusammen, so ausgerichtet, dass ich im Schlaf nicht schlingerte und gegen die Wände prallte, endlich für eine Weile von der Notwendigkeit befreit, mich andauernd abstützen, ausbalancieren und festhalten zu müssen.
Aber sogar in meiner Koje spürte ich die nimmermüde Schwerkraft des
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