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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Art, ein pensionierter Lehrer im Bereich Naturwissenschaften, mürrisch und jovial zugleich, sagte, er habe es für ein Netz gehalten, doch es sei zu weit entfernt gewesen, um ganz sicher zu sein.
    Gegen acht Uhr dreißig am nächsten Morgen entdeckte ich Müll-Gegenstand Nr. 2: ein großes, gelbes Plastikseilknäuel.
    Nach nur drei Tagen auf See war der Verstand schon so darauf eingestellt, auf der Meeresoberfläche nichts zu sehen, dass ein Seilknäuel große Aufregung hervorrufen konnte. Selbst ein Bündel Seetang wäre ein Kick gewesen – und das hier war echtes Seil. Wir drängelten an die Reling. Ich wollte » WELCHE PEILUNG? « rufen, hielt mich aber zurück, weil es ziemlich sinnlos gewesen wäre, schließlich hatte ich selbst das Seil entdeckt, jemand anderes hätte es also rufen müssen, damit ich hätte antworten können » NORDNORDOST AUF DER STEUERBORDSEITE! «
    Das war das Patrick-O’Brian-Syndrom. Ich hatte zu viele seiner mitreißenden marinehistorischen Abenteuergeschichten gelesen. Nun, zum ersten Mal auf einem großen Segelschiff, hatte ich den Drang, beim geringsten Anlass und zu jeder Gelegenheit » WELCHE PEILUNG? « zu brüllen – so wie der eiserne Captain Aubrey, nur ungehobelter. (Der merkwürdige Kontrapunkt zu diesem Drang war, dass ich mich nie an das » ENTER AUF! «-Gebrüll vor dem Klettern in die Takelage gewöhnen konnte, wie es uns der Piratenkönig beigebracht hatte.)
    Das Seilknäuel schwamm außer Sichtweite. »Welche Peilung?«, flüsterte ich.
    An jenem Tag gab es noch mehr Müll, hier und da ein paar kleinere Teile. Wir machten uns jedoch keine Illusionen, dass wir uns schon in der Nähe des Wirbels befanden, dafür waren wir noch nicht weit genug gereist. Außerdem war es immer noch kühl und windig – nichts von der warmen Flaute, mit der wir im Wirbel zu rechnen hatten. Doch unsere Lust war geweckt, unsere Sinne geschärft. Jeder begann das Meer nach Müll abzusuchen, sobald er an Deck kam. Einige stiegen auf die Saling, um von oben Ausschau zu halten. Ein weiteres Seil wurde gemeldet. (Welche Peilung?) Gabe und ich drängten an die Reling. Ich hatte den Eindruck, man müsse sich immer an die Reling drängen, selbst wenn man nur zu zweit war.
    Da war es: ein verschlissenes Stück Seil, vielleicht 45 Zentimeter lang.
    »Oh scheiße«, sagte Gabe. »So was versaut wirklich ein ganzes Ökosystem.«
    Die Funde wurden bald weniger und am nächsten Tag war das Wasser frei von Müll. Wir hielten uns jedoch für seine Rückkehr bereit. Ein Logbuch für Abfälle wurde angelegt, es lag immer im Steuerhaus auf dem Tisch unter dem GPS - und dem Radargerät, und zu unseren Wachaufgaben kam eine neue hinzu: Müll sichten.
    Bei jeder Wache saßen zwei Mitglieder im Bug, einer blickte nach steuerbord, der andere nach backbord, und sie meldeten alles, was sie sahen, über ein Walkie-Talkie an ein drittes Mitglied, das Längen- und Breitengrad und Zeit des Fundes ins Logbuch eintrug. Der vierte Wachhabende stand am Ruder. Mehrmals während der dreistündigen Schicht wurde auf Geheiß des Piratenkönigs gewechselt.
    Das Müllbeobachtungssystem haute mich nicht gerade vom Hocker. Mary hatte bereits gesagt, diese Reise werde keinen vergleichbaren wissenschaftlichen Schwerpunkt haben wie die im letzten Jahr, aber wenn wir den Müll schon beobachteten, sollten wir wenigstens methodisch oder nach Regeln vorgehen.
    Aber nein. Es gab keine echte Datenerhebung, keine Netze wurden durchs Wasser gezogen, um die Abfalldichte an verschiedenen Koordinaten zu messen. Es gab nicht einmal eine konsistente Methode des Glotzens. Sollten wir einfach überall Ausschau halten? Oder nur in einem bestimmten Bereich, sodass der von der einen Wache gezählte Müll sinnvoll mit dem der nächsten verglichen werden konnte?
    Und wie sollten die einzelnen Objekte zählen? Natürlich gaben wir große Stücke an das Steuerhaus durch. (Ich habe hier einen halben grünen Plastikeimer. Ich habe einen halben Meter gelbe Plane.) Aber was war mit einem Fünf-Zentimeter-, einem Ein-Zentimeter-Teilchen? Nur durch den sukzessiven Aufbau einer Abfallbeobachtungskultur, mündlich übertragen von einer Wache zur anderen Wache, ließ sich ein halbwegs standardisiertes Verfahren herauskristallisieren. Unsere Beobachtungen, so schien es, würden am Ende für niemanden von Nutzen sein.
    Bald wurden zwei Arbeitslampen am Netz unter dem Bug sprit befestigt und die Abfallbeobachtung fand nun rund um die Uhr statt. Sogar nachts standen

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