Willkommen im sonnigen Tschernobyl
immer und ewig als Crewmitglieder eines Großseglers auszeichneten. Auf der Wa che, bei den Mahlzeiten und im Aufenthaltsraum reichte ein Stichwort und er war mitten in einer Geschichte oder einem Lied. Bald versuchte ich, im unteren Aufenthaltsraum jedes Nickerchen zu vermeiden, aus Angst, von dem kopfüber hängenden Piratenkönig geweckt zu werden, der mit den Zähnen ein Taljereep spleißt und dabei ein Schlummer-Shanty in zwölf Versen singt.
Bei der ersten Mitternachtswache erzählte er uns seine Lebens geschichte: Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Alabama auf, ging schon als Jugendlicher von zu Hause fort und fing in Kalifornien ein neues Leben an. Es war die Geschichte eines jungen Mannes, der mit seinem Schicksal haderte. Nur durch die Prüfungen und Kasteiungen des Segelns wurde ihm klar, dass er sich trotz seines Pechs entscheiden konnte, glücklich zu sein. Dieser Offenbarung folgte er fortan, gestaltete und kontrollierte sein Umfeld und lebte für das Segeln. Seit seiner Jugend lebte er auf dem Schiff und arbeitete als Kapitän und Takler. Der Piratenkönig hat sein Schicksal selbst gewählt.
Die Wachschicht war auch Tratschzeit. Tratsch hält Schiffe am Laufen und ist der verlässlichste Weg, Informationen innerhalb der Crew zu verbreiten. Durch die Eintönigkeit lechzt der Geist nach allem, was interessant oder neu ist oder Bezug zur eigenen Situation hat – in diesem Fall auf einer kleinen, stählernen Insel festzusitzen. Die Nachtwachen, wenn die übrige Mannschaft schlief, waren besonders produktiv. Ganze Schichten wurden damit verbracht, die sozialen Missgeschicke des Kapitäns nachzuspielen und darüber zu spekulieren, ob Marys Ziele für die Reise realistisch waren. Wir fragten uns, wie lange die Fahrt wohl dauern würde, und grübelten darüber, was eigentlich genau von uns erwartet wurde.
Die Pausen zwischen den Gesprächen, auf See normalerweise für stille Träumereien und die Versenkung in die Geheimnisse der Tiefe reserviert, wurden stattdessen von Gabe gefüllt, der die gesamte Reise lang fortwährend Essensfantasien anregte. Tag und Nacht, bei Windstille oder auf offener See hieß er uns in seinem inneren Restaurant willkommen, einem sinnlichen Wunderland mit Grünen Thai-Currys, dampfenden Eintöpfen, noch mehr Grünen Thai-Currys – das Grüne Curry war immer dabei – und heißen, alkoholhaltigen Getränken gegen die Kälte, die uns fast den gesamten Weg zum Wirbel verfolgte.
Manchmal schien es, als sei dies Gabes einziger Zugang zur Welt. Während einer Diskussion über die Vorstellung des Müllteppichs als »Plastikinsel« ertappte ich ihn, wie er vor sich hinstarrte und sich die Lippen leckte: »Es ist eher wie … wie eine dünne Minestrone«, meinte er.
Oh, und dann muss man natürlich noch das Schiff steuern, also abwechselnd am Speichenrad der Kaisei stehen. Man kann dabei Heldentaten vollbringen, die man sich nie hätte träumen lassen: fahren, ohne etwas vor sich zu sehen (dank der Masten, der Bauweise des oberen Aufenthaltsraums und was weiß ich), im Dunkeln ohne Scheinwerfer fahren, im Dunkeln ohne Scheinwerfer fahren und dabei nach hinten sehen, das Ruder loslassen, Kaffee trinken und schlechte Witze erzählen. Diese und andere Manöver habe ich höchstpersönlich ausgeführt.
All dies wird auf hoher See ermöglicht durch die völlige Abwesenheit alles anderen außer der See. Dort ist nichts, was man umschiffen müsste, nichts, in das man hineinfahren könnte, keine Gegenstände außer dir und deinem Schiff. Wenn innerhalb eines Radius von zehn Meilen eine Regenbö oder eine hohe Welle unser Monopol auf Gegenständlichkeit verletzen würde, schlüge der Radar Alarm.
Beim Steuern war nur der Kurs wichtig, den der Wachführer vorgab, in unserem Fall der Piratenkönig.
»Eins-acht-fünf«, sagte er zum Beispiel.
»Eins-acht-fünf, aye «, musste man dann antworten – moralisch dazu verpflichtet, sich über die Albernheit des Wortes »aye«, hinwegzusetzen.
Dann schaute man auf die Himmelsrichtungen des Kompasses, der in der stählernen kardanischen Aufhängung des Kompasshäuschens direkt hinter dem Ruder schaukelte, und brütete darüber, wie man eine Kurskorrektur von fünf Grad hinbekommen sollte, wenn der Kurs durch den Wellengang, den Wind und Poseidons Launen gute zehn Grad in die eine und andere Richtung schwankte.
16. August – 36°55’ N, 129°27’ W
Am Nachmittag sahen wir unser erstes Stück Müll. Die Charlie-Wache hatte die Ehre.
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