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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Ozeans, so unbeständig wie der Wind. Unter ihrem Zepter wurden meine Organe, meine Haut, mein Gesicht, mein Mund hin- und hergezerrt, zuerst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links. Mir kam der Gedanke, dass das gar keine spezielle maritime Gegebenheit war. Weder das Schiff noch das Meer hatten mich mit irgendeinem quälenden, unnatürlichen Zauber belegt. Sie hatten nur offengelegt, wie die Welt in Wirklichkeit war. Schwerkraft und Orientierung waren, außer in dem begrenzten Fall des Lebens an Land, tatsächlich nicht verlässlich. Welten, die auf den Naturgesetzen beruhten, waren schwankend und unregelmäßig; ebenso unsere Körper – notdürftig, veränderlich, Fleisch auf einem Gerippe. Und auch unser Leben, unsere Pläne sind Schwingungen in einem Medium, kleine Wellen, die von der großen Woge überrollt werden.
    18. AUGUST – 35°46’ N, 135°28’ W
    An diesem Nachmittag stand ich am Ruder, als Mary auf die Brücke kam und dort eine Weile blieb. Wir hatten seit dem Beginn der Reise nicht viel miteinander gesprochen. Noch so ein merkwürdiger Effekt des Lebens auf der Kaisei: Unser strenger Schichtplan machte es möglich, erstaunlich wenig von denen mitzubekommen, die nicht in derselben Wache eingeteilt waren. Abgesehen von den Mahlzeiten – die ich gelegentlich ausließ, um zu schlafen – sah ich die Mitglieder der Alpha-Wache nur, wenn ich zufällig während ihrer Schicht an Deck Fotos machte oder das Kommando kam: »Alle Mann die Segel setzen.« Doch Mary war zu keiner Wache eingeteilt und blieb, wenn sie nicht die Wachhabenden besuchte oder irgendwelche an Bord geholten Abfälle begutachtete, meistens in ihrer Kajüte. So baute sich eine gewisse Distanz auf.
    Vielleicht fühlte ich mich in ihrer Gegenwart auch ein bisschen unwohl.
    Ich drehte das Ruder ein paar Speichen nach backbord, um den Kurs zu halten. Mary sog die Meeresluft ein.
    »Habe viel gelesen«, sagte sie. »Versuche nun, alles zusammenzufassen und die richtige Herangehensweise zu finden.« Sie erzählte, in ihrer Kajüte lägen stapelweise Bücher über Meeresmüll.
    Ziemlich spät, dachte ich. Ziemlich spät, erst jetzt nach dem richtigen Ansatz zu suchen. Sie setzte sich an einer Ecke der Brücke auf den Boden und lehnte sich gegen die Reling.
    »Was denkst du, Andrew?«
    »Worüber?«, fragte ich.
    »Über das Leben hier draußen.«
    Ich dachte über die Frage nach. Segeln gilt im Allgemeinen als Inbegriff von Freiheit und Abenteuer, aber für mich war es hauptsächlich durch seine Erniedrigungen und die endlosen, so unangenehmen wie obskuren Aufgaben gekennzeichnet, von denen unsere Sicherheit abhing. Es war ein bisschen, wie ein Haus zu besitzen, nur deutlich lebensbedrohlicher. Die Vorstellung, dass Segeln ein Ausdruck von Freiheit sei, war bestimmt nur ein Trick der Segler, sich selbst zu trösten. Sie mussten ja irgendwie rechtfertigen, dass sie sich das antaten.
    Mary wartete mit großen Augen auf meine Antwort. Ich lachte und sagte: »Na ja, es ist auf jeden Fall was ganz Spezielles, Mary.«
    Sie lächelte und gab mir ein Stück Schokolade. Ich dachte an etwas, das sie mir in Kalifornien gesagt hatte – ein Rat für eine Landratte auf See. Der Trick sei, sich nicht als vom Schiff begrenzt zu denken, sondern nur von dem, was man vom Schiff aus sehen kann. Die Demütigungen des Lebens auf See erschlossen mir die Wahrheit dieser Aussage. Die Lösung für jedes Elend war, den Geist zum Horizont hin zu öffnen. Zu wissen, dass man nicht auf dem Meer war, sondern ein Teil davon.
    19. AUGUST – 35°05’ N, 138°42’ W
    Am fünften – sechsten? zwölften? – Tag bekamen wir die erste richtige Kostprobe. Die Wolken verzogen sich, die Luft wurde wärmer und das Meer ruhig und glatt – und ein herrenloses Fischernetz verfing sich in der Schiffsschraube.
    Diese sogenannten Geisternetze wurden von Fischern abgeworfen oder verloren. Sie treiben mit allem, was sie mitschleppen, umher und finden einander und verwickeln sich zu einem unansehnlichen Seil- und Netzknäuel, gespickt mit Schwimmern und anderem Müll. Diese Netze sind die größten nicht lebenden Dinge im Müllwirbel. Als Plastikkrieger fischen sie weiter, umschlingen und töten Tiere im Laufe ihres jahre-, vielleicht sogar jahrzehntelangen Streifzugs durch den Ozean. Und für Schiffsschrauben sind sie ebenso tödlich.
    Ich wachte in meiner Koje auf, weil ich etwas hörte – das Geräusch von … ja, was für ein Geräusch? Robin, ein weiterer

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