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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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verließen wir ihn auch schon wieder. Wir hatten zu viele Tage im Hafen von Point Richmond verschwendet, hinzu kam das Pech, dass der Wirbel in diesem Sommer offenbar etwas weiter nach Westen gewandert war, und am Ende hatte ich kein einziges Mal im Beiboot gesessen und mit meinen eigenen Händen Müll aus dem Meer gefischt. Auch war niemand von uns über Bord gegangen, um ein Geisternetz in seinem natürlichen Lebensraum zu beobachten, im Bann des furchterregenden, blauen Abgrunds, umschwärmt von kleinen Plastikfischen.
    *
    Die Bravo-Wache verlief ruhig in dieser Nacht. Das Gerücht kursierte, Mary sei kreuzunglücklich, weil wir nun auf dem Rückweg waren; sie betrachte das als herben Rückschlag für das Kaisei-Projekt. Ob an dem Gerede etwas dran war, konnte keiner sagen. Niemand von uns Freiwilligen klopfte an ihre Tür, um nachzufragen. Aber es spielte auch keine Rolle. In groben Zügen stimmte es ja. Es fühlte sich an, als hätten wir in dem Moment, als wir den Müllwirbel erreicht hatten, kehrtgemacht. Waren wir überhaupt bis ins Innerste vorgedrungen? Hätten wir die Müllströme finden können, wenn wir nicht umgekehrt wären? Hätten wir Arts großen weißen Müllball aufspüren können?
    Es ist traurig, wie schnell aus einem Anfang ein Ende wird, ohne etwas dazwischen. An einem Tag liegt eine Ewigkeit auf See vor einem und am nächsten ist die Reise schon vorbei – auch wenn man vielleicht noch Tage oder Wochen vom Festland entfernt ist. Alles hängt davon ab, in welcher Richtung man unterwegs ist.
    Wir fuhren unter Maschinenantrieb durch die Finsternis. Ich war im dunklen Steuerhaus und wartete darauf, Funde der allgemein eher ergebnislosen Nachtwache einzutragen.
    Mary tauchte neben mir auf. Bedrückt standen wir nebeneinander, starrten nach draußen auf die undeutliche Silhouette von Kelsey am Ruder und lauschten dem Dröhnen der Maschinen.
    Sie tat mir leid. In die Forschungsreise waren zu viele Erwartungen gesetzt worden. Wäre es lediglich um Ökotourismus – oder Umweltverschmutzungstourismus – gegangen, wäre die Reise ein voller Erfolg gewesen. Immer wieder verwies der vehement selbstgerechte Piratenkönig auf die Ironie, dass wir auf unserer Fahrt so viel Treibstoff verbrauchten. Doch das war mir egal. Dauernd wird irgendwo Treibstoff verbraucht: um nach London zu fliegen, um eine Kreuzfahrt zu machen. Wir verbrauchten eben welchen, um etwas über die Welt zu erfahren. Und obwohl ich Marys Ziele kritisch sah, konnte ich ihren Tatendrang und ihre Entschlossenheit nur bewundern. Dank ihr konnten wir hier draußen sein und Zeugen eines der großen Phänomene unserer Zeit werden.
    Ich sagte ein paar aufmunternde Dinge. Dass es nicht so schlimm sei, dass wir die Müllströme nicht gesehen hätten, da für hatten wir eine Menge Partikel gesehen, an so vielen Stellen, dass man sie kaum zählen konnte. Stellen, die Henry zu Funksprüchen veranlassten wie »Oh, shit, sie sind überall«. Und waren diese Teilchen nicht der schwierigste Teil des Problems? Hatten wir nicht das gesehen, weswegen wir überhaupt aufgebrochen waren?
    Sie murmelte etwas Zustimmendes, nicht besonders überzeugt.
    Ich beobachtete das Navigationsgerät. Die Radarechos naher Regenböen krochen über den Monitor, urzeitliche Kleckse in orangefarbenen und gelben Pixeln, in denen ein stummes, geheimnisvolles Leben zu pulsieren schien.
    »Sie sehen aus wie Amöben«, sagte ich.
    Mary starrte auf den Bildschirm, eine Träne im Augenwinkel. »Ich wünschte, es wären Plastikinseln«, sagte sie.
    25. AUGUST – 32°53’ N, 143°08’ W
    Der Bugspriet war ein guter Ort, um die schlechte Stimmung eines Crewmitglieds wieder zu heben. Ich saß auf dem Netz und beobachtete, wie der Bug der Kaisei durch das Wasser pflügte. Wenn ich nach unten blickte, hatte ich einen wohn zimmergroßen Bereich vor Augen, der noch nicht vom Schiffsrumpf aufgewirbelt war. Hallo, kleiner Pazifikausschnitt. Und tschüss.
    Die Reise der Kaisei war leichte Beute für Skeptiker. Sie war ein perfektes Beispiel für die seltsame Symbiose zwischen einem Aktivisten und der Sache, gegen die er oder sie kämpft. Für das Kaisei-Projekt war es unabdingbar gewesen, Meeresmüll der schlimmsten Art zu lokalisieren, zu dokumentieren, ja, ihn geradezu zu feiern .
    Aber ich war ja nicht viel besser. Meine Mission war es, die schmutzigsten Gebiete der Welt zu finden – als ob ich wüsste, was das bedeutet. Nur wenn ich diese desaströsen Ökosysteme aufspürte,

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