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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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er nie persönlich getroffen hat. Über sie bekam er eine Funkverbindung ins Telefonnetz, und wir konnten zu Hause anrufen.
    Ich wollte der Frau Doktor sagen, dass ich noch lebte und wann wir wieder zurück wären. Aber das wusste keiner. Obwohl wir zum Segelfestival von San Diego wieder da sein sollten, hatte Mary vage davon gesprochen, so lange auf See zu bleiben, bis wir Gebiete mit stärkerer Müllbelastung gefunden hatten. (Arts Scherze über Kapitän Ahab wurden immer weni ger lustig.) Der Piratenkönig dagegen wollte unbedingt zurück kehren. Ob er langsam die Geduld mit Mary verlor oder die Nase voll hatte von der aus seiner Sicht aussichtslosen Suche oder ob es ihm ein dringendes Anliegen war, das Festival zu besuchen, konnte ich nicht sagen.
    Im Steuerhaus bediente der Piratenkönig das Funkgerät und gab einem unglaublich weit entfernten Amateurfunker, in Florida, glaube ich, die Telefonnummer der Frau Doktor. Dann reichte er mir das Funkgerät und ich wartete, während auf der anderen Seite des Planeten ein Telefon klingelte.
    Ich erreichte sie nie. Mehrmals hinterließ ich eine Nachricht, in der ich ihr die Position der Kaisei mitteilte, dass ich lebte, dass es mir gut ging und dass ich sie liebte. Später sagte sie, die Nachrichten seien teilweise verstümmelt und unverständlich gewesen, meine Stimme verzerrt und auf ihrer Reise durch die Atmosphäre zerhackt. Deswegen konnte sie nicht verstehen, wo ich war oder was ich sonst noch sagte. Nur, dass ich es war.
    *
    Mitten in der Nacht meldete sich das Radargerät. Ein Objekt direkt vor uns. Der Piratenkönig sagte, danach zu urteilen, wie sich das Profil auf dem Monitor veränderte und anwuchs, sei es wahrscheinlich eine Bö. Böen durchziehen diesen Teil des Ozeans als gekrümmte Sturmsäulen, die peitschenden Wind und Regen mit sich brachten.
    Unsere Gesichter wurden vom Radargerät beleuchtet und wir beobachteten den verdrehten Pixelklumpen, der auf uns zuraste. Er durchquerte den Drei-Meilen-, dann den Zwei-Meilen-Radius, zog sich dann – langsam – zusammen und streckte sich wieder und kroch auf der Backbordseite in einer Meile Entfernung vorbei.
    Wir gingen hinaus und starrten angestrengt in die Dunkelheit, konnten aber nichts erkennen. Weder Himmel noch Horizont. Die ganze Nacht sahen wir nichts als ein paar Sterne, die schwach in die Dunkelheit hinausleuchteten. Das Radargerät zeigte an, dort draußen sei etwas, aber wir konnten es nicht entdecken.
    Doch dann … veränderte sich etwas. Eine Silhouette rückte in unser Blickfeld. Nun sahen wir sie doch, undeutlich, aber riesig: Wie ein monströser Amboss glitt die Bö über das Meer.
    Die Segel standen völlig ruhig in der unbewegten Luft, und wir gingen schlafen.
    24. AUGUST – 32°59’ N, 145°50’ W
    Nach zehn Tagen auf See kehrten wir um.
    Die Spannung zwischen Mary, dem Piratenkönig und dem Kapitän hatte mit der Zeit immer mehr zugenommen. Was wir alle sicher wussten, war nur: Mary wollte so lang wie möglich auf See bleiben, der Piratenkönig fand, dass wir umkehren müssten, und der Kapitän bekam ganz gerne mal kurze, unsin nige Wutanfälle. Der Piratenkönig stand im oberen Aufenthalts raum und belehrte uns. Er war so versessen auf San Diego wie Mary auf die Müllströme. Und wir, der Rest der Mannschaft, wollten nur wissen, wann wir zurückkehrten, um planen zu können, wie wir – eines Tages – unser altes Leben wieder aufnehmen würden. Doch es erschien immer wahrscheinlicher, dass wir für alle Zeiten über die Meere wandern würden, ein Geisterschiff auf der Suche nach Plastik. Ich sah Mary im unteren Aufenthaltsraum eine Verbreitungskarte in dem Fachbuch Marine Debris (Coe und Rogers, 1996) lesen. »Aber da sollte noch Abfall sein«, sagte sie und zeigte auf eine Stelle vor Mexiko.
    Bei einigen hitzigen Treffen brach der Streit schließlich auch offen aus. Der Piratenkönig bestand darauf, auf der Stelle kehrt zumachen. Zum einen rückte das Großseglerfestival näher – das niemanden außer ihn interessierte – und zum anderen war unser Ingenieur Joe krank. Er hatte eine Art Halsinfektion, die immer schlimmer wurde. Als Argument, schleunigst zurückzukehren, war das dennoch fragwürdig: Wenn Joes Krankheit lebensbedrohlich wurde, müsste er sowieso vom Hubschrauber abgeholt werden, ob wir nun umkehrten oder nicht.
    Trotzdem gewann dieses Argument. Wir fuhren eine Halse, wie die Segler sagen, und segelten Richtung Osten. Kaum hatten wir den Wirbel erreicht,

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