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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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weiß, überleben diese Krebse im Zentralpazifik nur, wenn sie in einem Geisternetz leben können. Wir hatten ihren Wirt aus dem Wasser gezogen und damit zerstört und überließen die Überlebenden nun in gewisser Weise dem Untergang in den grausamen Tiefen des Ozeans. Aber das war uns gleichgültig. In Zukunft werden Geisternetze vielleicht geschützt, genau wie Wale und Seekühe. Doch nun war Jagdsaison.
    Ich hockte mich neben das Netz, um es zu begutachten. Wie sah es aus? Wie ein Gehirn? Eine Qualle? Ein großer Haufen Eingeweide? Taue in jeder Farbe, Machart, Zusammensetzung und Dicke waren ineinander verknotet und verwickelt. Mehrere leuchtende Plastikrauten – Schwimmer oder Schilder – hatten sich in dem Wirrwarr verfangen. Sie waren mit chinesischen oder japanischen Schriftzeichen versehen. Einige der Knoten waren offensichtlich von Menschenhand geknüpft, andere waren das Werk der See, ein topologisch unmögliches Gewirr aus ineinander verknäulten Tauen und Netzen.
    Mary beobachtete mich. »Ich hoffe wirklich, dass wir dir noch etwas Besseres zeigen können als das da«, sagte sie. Sie schien kein Verständnis für die Geisternetze zu haben, die so wenig Plastik enthielten. Denn das war es, was sie wollte – Plastik, Müllströme.
    Die Müllströme hatten die Rolle des von Art heraufbeschworenen großen weißen Müllballs eingenommen. Mary war zu versichtlich, dass der vom Wirbel zu Strömen verdichtete Abfall, irgendwo hier draußen war. Auf der Reise im letzten Jahr hatte man sie gefunden, erzählte Mary uns, und sie war überzeugt, dass wir sie auch diesmal wieder finden würden.
    Ich wurde es langsam leid, immer davon zu hören. Wir befanden uns mitten im Müllwirbel – sollten wir uns nicht ein wenig dafür interessieren, wie er war? Stattdessen hatte ich den Eindruck, das Kaisei-Projekt wollte nur das Zeug. Wir brauchten es als Beweis für unseren Einsatz. Ich fragte mich, ob das symptomatisch war für eine Non-Profit-Organisation, die ihre Geldgeber und die Öffentlichkeit beeindrucken musste. Würden sie nicht enttäuscht sein, wenn wir ohne einen Haufen Abfalltrophäen zurückkämen? Also gierten wir nach mehr Müll, nach dramatischen Verdichtungen, auf die wir uns stürzen konnten. Das war die gehobene Variante vom Glauben an die Plastikinsel, der uns alle verrückt machte. Und ich hatte den Eindruck, dass uns dies davon abhielt, den Müllwirbel so zu nehmen, wie er war: genauso groß und problematisch wie wir erwartet hatten, aber vollkommen unspektakulär. Mit bloßem Auge war er nicht zu erfassen – man musste schon das Gehirn einschalten.
    In dieser Hinsicht ist der Große Pazifische Müllteppich ein warnendes Beispiel in Sachen Umweltästhetik. Wie es scheint, brauchen wir Bilder für unsere Umweltprobleme. Haben wir kein Bild, das uns entsetzt, können wir mit dem Problem nicht umgehen. Doch manchmal verzerren die Bilder unser Denken oder werden ein Ersatz dafür, sich dem Problem tatsächlich zu nähern. Und wenn es schlicht kein passendes Bild gibt, nehmen wir andere zu Hilfe und erschaffen Inseln, wo keine sind.
    Keine Insel, kein Teppich aus Plastik – und doch befanden wir uns zweifellos im Müllwirbel. Wir waren Tausende Meilen ins Nichts gesegelt, um schließlich an diesem Ort zu landen. Und was fanden wir hier, fernab jeglicher Zivilisation? Weitaus mehr Müll als in der Bucht von San Francisco. Mehr als Sie in Ihrem Hinterhof sehen. Unablässig schwamm er vorbei: alle dreißig Sekunden eine Flasche, ein Eimer, ein Stück Plane, eine Handvoll Konfetti, und das alles vervielfacht durch die unzähligen Quadratmeilen des Wirbels. Und dennoch – ließ man den Blick über das Wasser gleiten, gab es nichts Auffälliges. Möchtegernentlarver müssen nicht, wie sie es gerne tun, darauf verweisen, dass man auf Google Earth kein Bild des Müllwirbels findet. Sie sollten vielmehr darauf hinweisen, dass es überhaupt keines gibt.
    Dies ist nämlich ein Problem, das nicht sichtbar ist. Und in dem Widerspruch zwischen dem Bestehen des Problems und seiner Nichtsichtbarkeit liegt der Grund für die völlig irrige Vorstellung von der Plastikinsel. Deshalb musste eine Metapher her, ein einleuchtendes Bild, um Größe und Ausmaß des Problems darzustellen.
    Verabschieden wir uns also ein für alle Mal von der Plastikinsel und benennen sie um in eine Galaxis . Wie die Milchstraße ist der Müllwirbel eine ungeheuer dichte Spirale, die aufgrund ihrer Größe zugleich außerordentlich

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