Willkommen in der Wirklichkeit
Textverarbeitungscomputer zu Textverarbeitungscomputer springt, ein gutartiges (oder vielleicht auch nicht so gutartiges) Virus, das Story um Story infiziert und sich eine bizarre Unsterblichkeit verschafft, die mit der von Jesus oder Tarzan oder Donald Duck vergleichbar ist. »Dick ist in eine der geheimnisvollen Welten übergetreten, die er selbst ersonnen hat«, schrieb Brian W. Aldiss 1986. Doch die tatsächliche Lage ist noch viel bemerkenswerter: Dick ist auch in die Welten anderer Schriftsteller übergetreten, um vielleicht eine endlose Folge alternativer Leben und Abenteuer zu führen. (Er erscheint mittlerweile auch schon in Filmen, zum Beispiel als Hauptperson in Gary Walkow’s The Trouble with Dick und als Art Nebenrolle in Eliseo Subielas Man Facing Southeast.)
Diese zahlreichen Auftritte in Geschichten anderer Autoren stellen mehr dar als nur den Wunsch der jeweiligen Verfasser, einem Mann Hochachtung zu bezeugen, der sie beeinflußt und inspiriert hat. Sie sind eher Zeugnis für die geheimnisvolle Greifbarkeit von Dicks Persönlichkeit, wie sie sich in seinen Werken (und Interviews, Anekdoten usw.) offenbart.
Es hat den Anschein, als habe Dicks Auffassung von der Welt als unwirklichem, immateriellem Ort – oder besser gesagt, von der alltäglichen Wirklichkeit, die ihre scheinbare Stofflichkeit verliert, wenn man sie näher hinterfragt – zur Folge gehabt, daß die Welt der jeweiligen Geschichte weniger faßbar, die Person, die die Geschichte erfährt und berichtet, aber um so faßbarer wird, ein Vorgang, der sich vielleicht mit dem Gesetz zur Erhaltung der Energie vergleichen läßt. Könnte es sein, daß wir, die Leser, uns der Realität, die wir beobachten, immer weniger sicher werden und ihre Energie auf das einzige, das noch bleibt, übertragen, nämlich auf den Erzähler, den Beobachter? Die Wirklichkeit hört zu existieren auf oder wird zumindest nicht mehr als vertrauenswürdig wahrgenommen, und so nimmt derjenige, der die Unbeständigkeit der Wirklichkeit feststellt, ihren Platz ein und weigert sich (wie Palmer Eldritch in Dicks Roman LSD-ASTRONAUTEN) einfach, zu existieren aufzuhören. Er will einfach nicht verschwinden. Man kann ihn nicht loswerden.
In der Tat ein Alptraum. Ich höre, wie Phil zu mir sagt: »Paul, du bist mein literarischer Nachlaßverwalter; könntest du nicht auch mein literarischer Vollstrecker [2] sein? Könntest du anderen Autoren nicht irgendwie verbieten, mich in ihren Geschichten zu benutzen, und mir Gelegenheit geben, diesen mannigfachen Welten und schrecklichen Abenteuern zu entkommen, endlich Ruhe zu finden?«
Und ich muß ihm sagen: »Diese Entscheidung kann nicht ich treffen. Du bist jetzt eine mythische Gestalt und gehörst zum Kollektivbewußtsein, bist Allgemeingut. Und außerdem, Phil, was ist mit den Charakteren in deinen Romanen und den Qualen, denen du sie ausgesetzt hast? Erinnerst du dich, wie sehr du diesen Roman von Vonnegut gehaßt hast, in dem er seine Charaktere schalten und walten läßt, wie sie wollen (BREAKFAST OF CHAMPIONS, noch keine deutsche Ausgabe.)? Jetzt holt dich dein eigenes Karma ein – das versteht man wohl unter ›dichterischer Gerechtigkeit‹?«
Phil stöhnt nur. Dann lacht er. Mit beiden Reaktionen bestätigt er seine fortdauernde Existenz. Er lebt in der Fachliteratur wie auch in der Literatur selbst weiter. Bücher mit Aufsätzen über Dick sind in Deutschland, Frankreich, den USA und Japan erschienen, und eine Reihe von Büchern sind aufgrund von Interviews oder Gesprächen mit Dick entstanden: mein eigenes ONLY APPARENTLY REAL, Gregg Rickmans IN HIS OWN WORDS und THE LAST TESTAMENT und Scott D. Apels THE DREAM CONNECTION. Darüber hinaus wurden zwei bedeutende Biographien veröffentlicht: Rickmans PHILIP K. DICK – A LIFE und Lawrence Sutins DIVINE INVASIONS. Und natürlich sind bislang 24 Ausgaben des Philip K. Dick Newsletter erschienen, und es ist noch kein Ende abzusehen. Über Dick werden Symposien abgehalten. Dick war sogar der Star einer Comic-Story von Robert Crumb, ›The Religious Experience of Philip K. Dick‹. Und all dieses Material wird wahrscheinlich nur dazu führen, daß in zukünftigen Stories und Romanen weitere ›Philip K.‹s auftauchen werden; das Genre nährt sich von sich selbst.
Und was, wenn Dick nicht der einzige ist, der dieses Schicksal erleidet? Was, wenn es nach unserem Tod keinen Himmel und keine Hölle gibt, sondern wir statt dessen zu Charakteren in den Erzählungen anderer Leute
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