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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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als die blockierten Räder laut aufkreischten, schreckte er hoch.
    Der Geruch von Lysol haftete in seiner Nase, von aseptischer Sauberkeit. Unwillkürlich fühlte er sich an ein Krankenhaus erinnert und nicht an ein verqualmtes, stickiges Zugabteil.
    Er war allein. Die Mitreisenden mußten den Zug bei einem früheren Halt verlassen haben. Er trat zur Tür; sie hatte sich verklemmt und ließ sich nur schwer öffnen. Als er auf den Gang hinaustrat, sah er, daß nicht nur sein Abteil, sondern der ganze Wagen bis auf ihn menschenleer war. Flüchtig erinnerte er sich an die Geschichte vom Geisterzug, der führerlos durch die Landschaft gerast war.
    Er grinste kurz. Dieser Zug war real, und er mußte aussteigen. Ein Wunder, daß er die Station nicht verschlafen hatte.
    Kendrick wartete, bis die Masse der Waggons endlich zum Stehen kam, stieß dann die Tür auf und sah auf den Bahnhof hinaus. Niemand war auf dem Bahnsteig zu sehen, alles war leer und verlassen.
    »Provinznest«, murmelte er. Er hatte schon lange vorgehabt, dieser Gegend den Rücken zu kehren, doch bislang hatte ihn immer etwas zurückgehalten. Zuerst war es Tessa gewesen, dann seine gutgehende Praxis, dann die Ernennung zum Beisitzer bei den Bürgerschaftswahlen. Kendrick seufzte. Er hatte sich zu stark engagiert; nun würde es kaum noch ein Fortkommen geben.
    Verdrossen trat er den Heimweg an. Er hatte es nicht weit; sein Haus lag etwa zehn Minuten zu Fuß vom Bahnhof Pine County entfernt. Insgeheim freute er sich sogar ein wenig. Tessa würde auf ihn warten, mit einem köstlich duftenden Abendessen – Steak mit Pilzen, wenn er sich recht entsann. Unwillkürlich lächelte er über sich selbst. Gerade hatte er noch rebellische Gedanken gehegt, vielleicht sogar davon geträumt, die Fesseln seiner bürgerlichen Existenz abzuschütteln, alles hinter sich zu lassen, die Praxis, die bescheidene Lokalpolitik, und nun dachte er wie ein Spießbürger aus dem Bilderbuch an seine treusorgende Frau, die ihn, hübsch zurechtgemacht, mit einem fertig gedeckten Tisch erwartete. »Wie war dein Tag, Schatz?« – »Wie immer, Liebes. Anstrengend. Chris macht wieder Schwierigkeiten. Und deiner, Liebes?« – »Wie immer, Schatz. Terri war auf eine Tasse Kaffee hier. Weißt du, was sie erfahren hat? Die Pierce von nebenan ist im vierten Monat schwanger. Und das, obwohl sie seit einem dreiviertel Jahr von ihrem Mann getrennt lebt! Willst du vor dem Essen einen Drink, Schatz?«
    Der Blick auf die sich vor ihm ausbreitende Stadt ließ ihn stutzen. Die Straßen waren wie ausgestorben, und das am frühen Abend.
    Kendrick schüttelte den Kopf. Natürlich, Pine County war nicht San Francisco, wo die Musik bis morgens um sieben aus den Diskotheken dröhnte, aber daß der Ort um diese Zeit in sanfter Stille vor sich hinschlummerte, war mehr als ungewöhnlich.
    »Ach was«, murmelte er, »wir wohnen eben in der tiefsten Provinz.« Er pfiff eine kleine Melodie, doch sie klang noch schiefer als sonst. Betroffen stellte er fest, daß er unwillkürlich schneller als gewöhnlich ausschritt.
    Und … dieser Geruch. Lysol. Aseptische Reinheit. Kein Hauch von Benzin in der Luft, kein Duft der Blumen und Sträucher. Strenge, keimfreie Sauberkeit.
    Über seine Netzhaut huschte ein Blitz. Einen Sekundenbruchteil lang sah er Schläuche, Skalen, helles Plastik, weißen, frisch gestärkten Stoff. Alles war weiß um ihn herum. Es war, als würde er in einem Glas Milch ertrinken.
    Und auch sein Gehör war betroffen. Er vernahm einen steten, konstanten Piepton, der ihn mit seiner Gleichförmigkeit durchdrang, ausfüllte.
    Etwas ließ ihn stolpern. Der milchpulverstaubige Boden des Bürgersteigs schoß rasend schnell auf ihn zu, die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Mühsam rappelte er sich wieder auf und lehnte sich gegen eine Wand … Hauswand … Krankenhauswand?
    Er blinzelte. Das allgegenwärtige Weiß löste sich auf, und helleuchtende Farben ließen seine Augen tränen. Er konnte nicht mehr richtig sehen. Etwas, das ihn an einen roten Schleier erinnerte, legte sich über seine Pupillen, und dann verwandelte sich seine Umgebung vollends in ein verschwommenes, rotes Negativ. Unvermittelt sackten seine Knie ein. Er glitt an der Wand hinab, stürzte zu Boden.
    Mit plötzlich aufkeimender Panik versuchte er, alle Kräfte zusammenzunehmen und sich wieder aufzurichten, doch mit einem Schlag fühlte er sich unendlich schwach. Sein Herz hämmerte mit einer solch immensen Stärke, daß er meinte,

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