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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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erschien, nachdem die revolutionären Matrosen zwar das Regiment übernommen, von der Besetzung des Rathauses aber abgesehen hatten.
    So wie seinerzeit der Soldatenrat «Ruhe und Ordnung» zur höchsten Pflicht erkor, um sich kurz darauf nahezu ohne Vorbedingungen mit dem eigentlich abgehalfterten Senat zu verständigen, regiert hernach auch die SPD. Obgleich sie in der Bürgerschaft der Hansestadt mit zweiundfünfzig Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erringt, verzichtet sie kleinmütig auf die ganze Macht und geht eine Koalition mit den bürgerlichen Wahlverlierern ein. Die alten Honoratioren danken ihr diese Kompromissbereitschaft mit offenkundiger Verachtung: 1926, als die Hansestadt in einer pompösen Historienschau ihres glorreichen siebenhundertjährigen Bestehens gedenkt, schließt der amtierende parteilose Oberbürgermeister die uninspirierten Sozialdemokraten von der Vorbereitung der prestigeträchtigen Feier einfach aus.
    Da kann es kaum verwundern, dass der talentierte «rote Falke» die Entwicklung allmählich mit anderen Augen sieht als der Großvater. Wie blamabel sich die SPD ins Abseits manövrierte, als sie in der chaotischen Startphase der Republik mit Philipp Scheidemann, Gustav Bauer und Hermann Müller binnen einiger Monate drei Kanzler verschliss und sich fortan in der Opposition am wohlsten zu fühlen schien, empört ja nicht bloß ihn. Sein journalistisch-politischer Mentor Julius Leber denkt darüber, wie er später erfahren wird, ähnlich. In Briefen, die nach seiner Verhaftung an die Öffentlichkeit gelangen, wird er die eigenartige «Lust an der Ohnmacht» zerknirscht als «die Erbsünde» der Partei verurteilen.
    Es ist ein schmerzhafter Prozess der Enttäuschung, in dem sich der zunehmend desillusionierte Herbert Frahm seiner SPD mehr und mehr entfremdet. Es will ihm nicht in den Kopf, wieso sie zwar den schmählich gescheiterten Obrigkeitsstaat abschaffte, es dann aber zuließ, dass die alten Eliten etwa beim Militär oder in der Justiz wieder den Ton angaben. Wie er als Elder Statesman selbstkritisch einräumt, sei ihm als ungeduldigem SAJ-Funktionär über diesen Zweifeln aus dem Blick geraten, für welche Errungenschaften «Weimar» trotzdem stand; er habe damals vor allem «den Sozialismus voranbringen» wollen. Seine Distanz wächst insbesondere nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, die sich in Deutschland ab dem Winter 1929/30 in einer rasant steigenden Massenarbeitslosigkeit niederschlägt. Als die Parteiführung ihre sozialdemokratische Nachwuchsorganisation, die sich allzu forsch dem «Befreiungskampf des internationalen Proletariats» verschreibt, fester ans Gängelband nehmen will, protestiert er mit einem wütenden Artikel: «Wir Jungen», teilt der «Volkskorrespondent» den Lesern vollmundig mit, «haben nun eben doch ein anderes Feuer in uns als die Alten.» In der Rückbesinnung auf solche vom Chefredakteur großzügig tolerierten Sprüche mag auch der Grund für seine später bemerkenswerte Gelassenheit liegen. Wie der SPD-Vorsitzende Willy Brandt auf die ähnlich widerspenstigen «Jusos» reagiert, die bundesdeutschen Jungsozialisten, die sich als Teil der Achtundsechzigerbewegung sehen, und langmütig deren innerparteiliche und gleichzeitig außerparlamentarische «Doppelstrategie» erträgt, verhält sich ihm gegenüber der Genosse Julius Leber.
    Einen Riegel schiebt der patriotische Reichstagsabgeordnete dem schwierigen Schützling erst vor, als sich die Tiraden häufen. Allem voran die von Frahm in immer kürzeren Abständen verbreitete Auffassung, an der hinreichend kompromittierten Republik gebe es im Grunde «nicht viel zu verteidigen», scheint ihm weit überzogen. Als Frontoffizier im Ersten Weltkrieg und Träger des Eisernen Kreuzes bekennt sich der um zweiundzwanzig Jahre ältere Pragmatiker zu einer prinzipiell staatsbejahenden Sicht. Was «Weimar» trotz zahlreicher Mängel zu bieten hat, ist ihm zu wichtig, um es einem für seinen Geschmack gefährlich frei vagabundierenden vermeintlichen Avantgardismus zu opfern.
    Schon 1928 gerät er mit dem damals knapp Fünfzehnjährigen erstmals aneinander, als im Reichstag über den Bau eines von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs akzeptierten Panzerkreuzers gestritten wird. Leber, der sich für eine Aussöhnung der Arbeiterschaft mit der bewaffneten Macht einsetzt, befürwortet das Projekt – sein Adlatus fällt aus allen Wolken. Bei den Deutschen stehe der Feind vornehmlich «im eigenen Land»,

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