Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Anliegen.
Gleichsam in einem Atemzug nennt er den Aufbau der SAP etwas verschwommen eine interessante, im Grunde aber «nicht sehr gewichtige Begleiterscheinung» des allgemeinen Zerfallsprozesses, von dem die durchgehend morbide erste deutsche Republik heimgesucht worden sei, und es dauert dann noch einmal ein paar Jahre, ehe er das Geständnis vervollständigt: Seinen in «jugendlichem Ungestüm» erfolgten Parteiübertritt, sagt er da eher beiläufig, müsse er sich als «politischen Fehler» ankreiden. An der Lauterkeit der damit verbundenen Gesinnung lässt er dagegen nie einen Zweifel.
Die Abkehr von der SPD bedeutet auch persönlich eine einschneidende Zäsur. Natürlich bedrückt es den skrupulösen Herbert Frahm, wie sehr der «Papa» unter dem Wechsel leidet, und ebenso hart trifft ihn das Zerwürfnis mit seinem schwer enttäuschten Mentor. Dass Julius Leber in der Zeit ihrer Zusammenarbeit für ihn weit mehr gewesen ist als ein kluger Redaktionsleiter und bedeutender Ratgeber, unterstreicht der in privaten Fragen wortkarge Willy Brandt in einem bemerkenswert offenherzigen Interview: Es erscheine ihm im Nachhinein, verrät der Kanzler 1973 der italienischen Journalistin Oriana Fallaci, «als hätte ich in Bindungen und Spannungen zu ihm gestanden wie ein Sohn zu seinem Vater».
Das politische «mea culpa» liegt da schon länger zurück. Um sein anhaltend schlechtes Gewissen zu besänftigen, erhebt der aus Norwegen heimgekehrte Widerstandskämpfer den verprellten Freund nicht nur gleich nach Kriegsende zum «militanten Demokraten freiheitlich-sozialistischer Prägung» und «Ehrenretter der Nation». Als den in seinen Augen bedeutsamsten «Vorläufer» einer modernen Volkspartei setzt er ihm insbesondere 1959 auf dem SPD-Reformkonvent in Bad Godesberg ein Denkmal.
In den Wochen des großen Krachs fehlt dem knapp achtzehnjährigen Zögling zu solchen Einsichten schlicht die Bereitschaft. Sosehr ihm der Konflikt mit Leber zu schaffen macht und er insgeheim dessen Unbeugsamkeit bewundert, so störrisch geht er dem Lehrmeister fortan aus dem Wege. Statt zu ihm noch einmal Kontakt aufzunehmen, erstickt er die schmerzlich nagenden Verlustgefühle lieber in einem hektischen Aktionismus. Als Lübecker Agitprop-Leiter, der in der SAP rasch zum vielbeschäftigten Multifunktionär avanciert, glaubt er wohl zu Recht, sich keinerlei Schwächen erlauben zu dürfen.
Für Grübeleien bleibt auch wenig Zeit. Sogar in der vergleichsweise noch ruhigen Freien und Hansestadt, die über eine der stabilsten sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Organisationen im Lande verfügt, verlagert sich der politische Kampf zusehends auf die Straße. Vor allem Erwerbslose, erinnert sich Willy Brandt, «trugen plötzlich ein Hakenkreuz im Knopfloch», und nationalsozialistische Losungen, «die bisher die Wände von Bedürfnisanstalten geziert hatten, erschienen an den Häuserwänden und Litfaßsäulen», während die gefürchteten braunen Überfallkommandos «ihren Beitrag zur Erneuerung Deutschlands mit Gummiknüppeln und Totschlägern leisteten».
Im Oktober 1931, einen Monat nach der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei, schließen sich die erklärten Feinde der Republik in einer aus der NSDAP und den Deutschnationalen, dem Alldeutschen Verband und dem «Stahlhelm» geschmiedeten «Harzburger Front» zusammen, der die SPD im Dezember mit der «Eisernen Front», einer im Wesentlichen aus dem «Reichsbanner» und betrieblichen «Hammerschaften» gebildeten Liaison, entgegenzutreten versucht.
Wie sich allerdings bald herausstellt, erweist sich das linke Bündnis als viel zu instabil, um den rechten Furor in Schach halten zu können. In der Wahrnehmung Frahms wird die prekäre Lage zudem geschönt. Wiederholt appelliert er an seine vormaligen Parteifreunde, in der sich ständig verschärfenden Weltwirtschaftskrise «revolutionäre Maßnahmen» zu ergreifen, doch die Wirkungsmacht der Sozialdemokraten erschöpft sich nach seinem Befund in einem Wust «läppischer Resolutionen».
Darüber hinaus beschweren den Konvertiten auch im privaten Bereich einige Probleme. Mit dem Ausscheiden aus seiner angestammten Partei ist für ihn die Verdienstquelle beim «Volksboten» versiegt, und er hat sich die Berufsperspektive verbaut. Der sehnliche Wunsch, in Hamburg deutsche Literatur und Geschichte zu studieren, um danach als Journalist zu arbeiten – eine Hoffnung, die der fürsorgliche Julius Leber mit dem Versprechen genährt
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