Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
zurückgekehrt zu sein, doch in dieser Nacht im September 1965 hat er offenkundig den Glauben daran verloren, dass es ihm jemals gelingen könnte, die Landsleute von seiner Lauterkeit zu überzeugen. Also geht er «nach Hause» – und er meint damit ausdrücklich nicht Norwegen, wie ihm böswillig unterstellt wird, sondern sein angestammtes Revier an der Spree. Dabei gerät die Chefetage der SPD noch einmal vorübergehend in Turbulenzen, als der Machtmensch Wehner die Gefahr einer tiefgreifenden Verunsicherung seiner Partei so hoch veranschlagt, dass er in einem Akt der Selbstüberwindung dem schwer gekränkten Kollegen das Äußerste schmackhaft zu machen versucht: Im Tausch mit Fritz Erler, den er als «Regierenden» in die alte Hauptstadt abschieben möchte, soll Brandt die Oppositionsführung im Bundestag übernehmen, doch der Wechsel lässt sich allein schon deshalb nicht realisieren, weil sich der Fraktionsvorsitzende strikt verweigert.
In Berlin sieht es zunächst einmal so aus, als fiele der physisch wie psychisch ausgelaugte Bürgermeister schier ins Bodenlose. Er wirkt apathisch und greift im kleinen Kreis seiner Vertrauten häufig zur Rotweinflasche, um sich danach mit den immer gleichen quälenden Fragen herumzuschlagen. Warum die niederträchtigen Angriffe auf ihn und was habe er sich möglicherweise selber vorzuwerfen, wenn er sich ständig solchen Torturen aussetze? In Momenten besonderer Niedergeschlagenheit ist er sich sicher, für seine Sozialdemokraten auf Dauer eine Belastung zu sein, und will «den ganzen Bettel hinschmeißen».
Doch dann fängt er sich wieder, denn neben dem eher zartbesaiteten gibt es schon damals zugleich den robusten Brandt. Die Neigung, offene Wunden zu zeigen, mindert nur unwesentlich seine Entschlossenheit, in der «Sache» Stehvermögen zu beweisen. Sosehr es ihn empört, seine antifaschistischen Aktivitäten in einem fort rechtfertigen zu müssen, so penibel dokumentiert er sie nun. In «Draußen», einem sorgfältig zusammengestellten Extrakt seiner im Exil verfassten Schriften, kann er belegen, nie gegen sein Land, dafür aber umso leidenschaftlicher gegen «seine Verderber» angetreten zu sein.
Der «narbenbedeckte Heimkehrer», wie ihn die «Berliner Morgenpost» gefühlvoll nennt, erholt sich auch sonst. In den Wintermonaten 1965/66 gewinnt er ein gutes Stück seiner Authentizität zurück, die er in zwei Wahlschlachten allzu flexibel der Parteiräson geopfert hat. Er möchte in Zukunft nicht mehr der Mann sein, der den Erwartungen anderer entsprechend sein Bestreben sklavisch danach ausrichtet, wie man «etwas wird », sondern «ob man etwas will ». Diese Einsicht, erinnert er sich später, sei eine überaus «heilsame Zäsur» gewesen, die ihm die nötige innere Balance verschafft und von da an zumindest sein politisches Leben bestimmt habe.
Es ist eine leise, von keinerlei spektakulären Umschwüngen begleitete Metamorphose. Brandts Entscheidung, in der brutal zerschnittenen ehemaligen Hauptstadt weiterzumachen, liegt die Erkenntnis zugrunde, dass er nirgendwo besser beeinflussen kann, was er nun ins Zentrum seiner Tätigkeit rückt. Während sich die Supermächte vorsichtig aus ihrer Erstarrung zu lösen beginnen, geht es ihm zuvörderst um die Lage Deutschlands und die nach seinem Befund wichtigste aller Fragen: Wie stellt man es an, den Fliehkräften der unterschiedlichen politischen Systeme zu trotzen, die die beiden Teilstaaten auseinandertreiben, und «die Nation zusammenzuhalten»?
Berlin wird so zum Versuchslabor für ein Angebot, das in dieser Phase noch nicht unter dem Stichwort «Ostpolitik» die Gemüter erregt, in dem deren wichtigste Merkmale aber bereits vorbedacht sind. Weder entspringt die Idee der behutsamen Neuorientierung einem jähen Geistesblitz, noch ist es gar ein Geniestreich – die auf menschliche Erleichterungen abzielende und oft von bitteren Rückschlägen beschwerte Arbeit der geduldigen «Mauerspechte», wie sich der Bürgermeister und seine Ratgeber Egon Bahr und Heinrich Albertz in einer möglichst unverdächtigen Verharmlosung ihrer Absichten untereinander titulieren, ist sehr viel mehr solides Handwerk.
Willy Brandt 1965 bei einem seiner seltenen Besuche in Lübeck mit Mutter Martha und Stiefvater Emil Kuhlmann.
Manches spricht dafür, dass Brandt seinen Wiederaufstieg auch dieser Mischung aus persönlicher Selbstbescheidung und beeindruckender Zähigkeit verdankt. Der spürbar gefestigte, bald deutlich gelassener
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