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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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Handelns, will er die Interessen der Bundesrepublik offen vertreten, ohne dabei nationalistischen Tendenzen zu verfallen, und seine Landsleute endlich von einem heimlich gehegten «Wunderglauben» befreien.
    Der besteht für ihn vor allem darin, wie er später in seinen 1976 veröffentlichten «Einsichten» schreibt, dass in den Zeiten der Großen Koalition noch verbreitet die Auffassung vorgeherrscht habe, man könne sich mit Hilfe juristischer Formeln an den Folgen des verlorenen Krieges «vorbeimogeln» – für Brandt schon damals ein glatter Irrweg. Alle Versuche, auf solche Weise die Realität auszublenden, warnt er deshalb in Interviews, müssten zwangsläufig scheitern.
    Das ist unverfänglich, aber andererseits deutlich genug, um die im schwarz-roten Bündnis angestrebte Vereinbarung über eine wirklichkeitsnähere Deutschland- und Außenpolitik zu bekräftigen. Ihm bereitet insbesondere Sorge, wie sehr sich Washington und Moskau nach der Kubakrise bemühen, neue Grundlagen für eine tragfähige Koexistenz zu schaffen, während das vergleichsweise uninspirierte Bonn in alten Gräben verharrt. Dass sich der Wirtschaftsriese in diesen Zusammenhängen «wie ein Zwerg» aufführe, hatte er bereits im Wahlkampf gerügt, und der von Kiesinger in Aussicht gestellte Kurs der «Entkrampfung» ändert an seinem Urteil nur wenig.
    Zwar erklärt auch der Kanzler, er wolle vermeiden, dass «die beiden Teile unseres Volkes» ungebremst auseinanderdriften, doch lässt der auf seine Richtlinienkompetenz pochende Regierungschef immer noch offen, wie er dem entgegenwirken will. Stattdessen beharrt er unverdrossen auf dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, der eine Anerkennung des Zwangsregimes «jenseits von Mauer und Stacheldraht» kategorisch ausschließt – und das gilt ebenso für alle Drittstaaten. Wer dem Werben Ostberlins erliegt, dem droht Bonn ohne Umschweife mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen.
    Willy Brandt macht von Anfang an keinen Hehl daraus, wie sehr ihn diese Mitte der fünfziger Jahre in Kraft getretene und nach einem Staatssekretär im Auswärtigen Amt benannte «Hallstein-Doktrin» behindert. Gleichwohl ist er zu jener Zeit noch weit davon entfernt, eine prinzipiell andere Strategie zu verfolgen – und das nicht bloß aus Rücksicht auf den konservativen Koalitionspartner. Dem Unumgänglichen ins Auge zu sehen, fällt ihm selber schwer, weshalb auch er das «obszöne Kürzel DDR» bezeichnenderweise häufig mit gestelzten Ersatzbegriffen umkurvt. Der große Wurf, der ihm später einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern wird, erscheint ihm vorerst noch viel zu risikobeladen.
    Dennoch unterscheiden sich die auf den Sonderfall Deutschland bezogenen Konzepte der beiden Koalitionsspitzen schon damals nicht nur in Nuancen. Während sich Kiesinger auf die alte und erfolglose Marschroute versteift, nach der die Wiedervereinigung die Voraussetzung dafür ist, der Welt die ersehnte Entspannung zu bescheren, plädiert der Sozialdemokrat für eine Umkehr der Prioritäten. Die Einheit kann er sich allein als Resultat eines Transformationsprozesses im Herrschaftsbereich der Sowjetunion vorstellen, der womöglich Jahrzehnte benötigt – und deshalb setzt er sich gleich nach seinem Amtsantritt zum Ziel, die «Selbstfesselungen» der Bonner Außenpolitik zu lockern.
    Immerhin geht die CDU auf seine Idee ein, den diplomatisch obsoleten Hallstein-Ukas zu modifizieren. Osteuropäischen Ländern wird zugestanden, sie hätten wegen ihrer Abhängigkeit von den Vorgaben Moskaus gar nicht anders gekonnt, als der «Zone» die völkerrechtlich legale Existenz zu bestätigen, und seien als Partner durchaus willkommen. Bukarest nimmt die Gelegenheit schon nach wenigen Wochen wahr, doch der im Januar 1967 vollzogene Botschafter-Austausch verfehlt die von der Bundesregierung erhoffte Signalwirkung. Die anderen Ostblockstaaten, darunter so wichtige wie Polen oder die ČSSR, legen zumindest nach außen hin keinen Wert darauf, dem rumänischen Beispiel zu folgen.
    In Wahrheit bleibt ihnen auch nichts anderes übrig. Aufgeschreckt von Walter Ulbricht, der die Initiative Brandts als «Kampagne zur Aufweichung» des Warschauer Pakts strikt zurückweist, zieht die UdSSR ihren Satelliten unverzüglich die Daumenschrauben an: Auf zwei eilends einberufenen Konferenzen dreht der «große Bruder» den Spieß kurzerhand um. Mit dem «revanchistischen Störenfried», diktiert der Kreml, dürfe über die Aufnahme

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