Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
und souveräner in Erscheinung tretende Sozialdemokrat, der seinen Genossen offenbar nichts mehr beweisen zu müssen glaubt, dafür aber umso mehr bewirken will, erfreut sich unvermittelt steil ansteigender Beliebtheit. Schon im Juni 1966 bestätigen ihn die Delegierten auf dem Dortmunder Parteitag fast einstimmig im Vorsitz – angesichts des gerade mal neun Monate zurückliegenden Wahlfiaskos eine glatte Sensation. «Willy ist wieder wer», staunt der «Spiegel» und prophezeit sein uneingeschränktes Comeback in der Bundespolitik.
Aber das interessiert ihn einstweilen noch wenig. Er hat in Berlin sein «Projekt», das sich nicht allein auf die fragile Passierscheinregelung bezieht, die die DDR-Führung mit ständig neuen Schikanen zu unterlaufen versucht. Zu seiner «Politik der kleinen Schritte» gehört auch ein ursprünglich von der SED angeregter Redneraustausch zwischen den Spitzen der Einheitspartei und der SPD, der sich dann im Sommer freilich als undurchführbar erweist. Um «den Beton zwischen Deutschland und Deutschland dennoch ein Stück weiter aufzupicken», folgt der «Regierende» im Frühherbst einer Einladung des sowjetischen DDR-Botschafters Pjotr Abrassimow und betritt erstmals nach dem Mauerbau wieder Ostberliner Boden.
Konkrete Ergebnisse zeitigt dieses Treffen am Ende zwar ebenso wenig wie die drei Begegnungen, die vorher im Laufe des Jahres mehr oder minder konspirativ im Westteil der Stadt arrangiert worden waren, sinnlos ist es aber keineswegs. Der impulsive Russe, der als Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU im Kreml bestens verankert ist, bombardiert den Gast nicht nur mit reichlich Wodka und flotten Trinksprüchen, er bekräftigt auch den Wunsch seiner Regierung, den Bürgermeister möglichst bald in Moskau begrüßen zu dürfen – ein Angebot, das bei Ludwig Erhard zunächst einmal das übliche Misstrauen erzeugt.
Doch im Grunde hat der ja kaum noch etwas zu sagen. Seit die Sozialdemokraten aus der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen als glorreiche Sieger hervorgegangen sind und in der ökonomisch bedeutsamsten aller Regionen in Zukunft allein regieren können, taumelt sein christlich-liberales Kabinett im Rekordtempo dem Ende entgegen. Gerade mal einige Milliarden Mark an Schulden und ein paar hunderttausend Arbeitslose kosten den führungsschwachen «Erfinder des Wirtschaftswunders» bei den erfolgsverwöhnten Deutschen binnen kurzem so viel an Renommee, dass er im Spätherbst 1965 entnervt das Handtuch wirft.
Der amtsmüde Kanzler weicht dem Schwaben Kurt Georg Kiesinger, der mit Herbert Wehner und Helmut Schmidt die erste Große Koalition der Bonner Nachkriegsrepublik schmiedet. Unterdessen sieht Willy Brandt dem zähen Poker aus der Berliner Distanz erstaunlich unbeteiligt zu, obwohl ihm ein rechnerisch mögliches Bündnis mit der FDP, die für seine Entspannungsbemühungen sehr viel mehr Verständnis aufbringt als die schwergängige Union, erkennbar sympathischer wäre. Doch weil sich rasch herausstellt, dass die beiden Parteien in ihren ökonomischen und sozialpolitischen Zielsetzungen schwerlich zueinanderpassen, lenkt er schließlich ein.
Dem schwarz-roten Pakt auch als Minister anzugehören, drängt es ihn aber nicht. Er ahnt, dass die SPD schmerzhaften Kompromissen zustimmen muss, wenn sie in die Regierung eintreten will, die den ohnehin schon fragilen inneren Zusammenhalt «zerreißen» könnten, und möchte deshalb nur ungern eingebunden werden. In Anbetracht des bevorstehenden Kraftakts versucht er sich herauszureden: Ihm bleibe höchstens Zeit, ein peripheres, «etwa das Wissenschaftsressort» zu betreuen.
In diesem Fall ist es Helmut Schmidt, der ihm energisch die Hintertür versperrt. Die Entscheidung für ein Bündnis mit den Konservativen sei nur dann hinreichend glaubwürdig, befindet der resolute Hanseat, der anstelle des bereits todkrank daniederliegenden Fritz Erler die Fraktion führt, wenn sich deren «Vorturner» nicht listig davonschleiche, sondern als künftiger Vizekanzler das der SPD zustehende Außenamt leite.
Muss sich Brandt tatsächlich überwinden, um in einer Koalition, die mit den Worten Egon Bahrs ein bisschen nach «widernatürlicher Unzucht» riecht, die ihm gebührende Rolle zu besetzen? Was immer ihn anfangs wirklich hat zögern lassen – nach einigem Hin und Her macht er gerne mit.
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7.
«Feigheit vor Freunden» Außenminister in der Großen Koalition
Als Willy Brandt am 6. Dezember 1966 von seinem
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