Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
christdemokratischen Vorgänger Gerhard Schröder in das Außenministerium eingeführt wird, überwiegen zunächst einmal die zwiespältigen Empfindungen. Natürlich ist es für ihn ein erhebendes Gefühl, dass er als Chef einer Partei, deren Machtübernahme Konrad Adenauer einst theatralisch mit dem Untergang des Vaterlands gleichgesetzt hatte, die Bundesrepublik nun auf internationalem Parkett vertritt. Andererseits kennt er aber auch zur Genüge die gravierenden Vorbehalte, die in den eigenen Reihen gegen die neue Konstellation rumoren – und so möchte er unbedingt alles vermeiden, wie er in einem Brief an den alarmierten Freund Günter Grass versichert, was den Wählern als «große Kumpanei» erscheinen müsste.
Dass kritische Köpfe im Hinblick auf die künftige politische Arbeit der SPD das Schlimmste befürchten, kann kaum überraschen. In einem «Kabinett der Zumutungen», so die Publizistin Carola Stern, versammeln sich immerhin weltanschaulich und in ihren Biographien unterschiedlichste Protagonisten: Dem einstigen Oberleutnant Franz Josef Strauß und dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger sitzen der Exkommunist Herbert Wehner und der frühere Widerstandskämpfer Willy Brandt gegenüber – eine bis weit in die sechziger Jahre hinein unvorstellbare Spannbreite. Der noch kurz zuvor von den Konservativen verteufelte Sozialdemokrat bemüht sich jedoch nach Kräften um eine möglichst gedeihliche Entwicklung der Liaison. Für eine Versöhnung der Deutschen «mit sich selbst» hatte er seit seiner Rückkehr aus dem Exil schließlich häufig geworben.
In einer zumindest in ihren Anfängen erstaunlich gut funktionierenden Allianz, in der die Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Schmidt einen von Reibungsverlusten freien Parlamentsbetrieb organisieren, bleiben der Kanzler und sein Vize allerdings merklich auf Distanz. Betont höfliche Umgangsformen können nur schwer darüber hinwegtäuschen, dass die beiden keinen wirklichen Draht zueinander finden, was aus der Sicht des Außenministers in erster Linie an einem überbordenden Ehrgeiz seines Regierungschefs liegt. Der chronisch misstrauische Kiesinger pfusche ihm leider häufig ins Handwerk, klagt er seinen Gefolgsleuten Klaus Schütz und Egon Bahr.
Doch er lässt es sich nicht verdrießen. Die «durch revolutionäre Ungeduld geprägten Jahre» lägen gottlob lange hinter ihm, versucht sich Brandt die gewöhnungsbedürftige Situation schönzureden, um sich dann auf einem Terrain einzurichten, das er im Großen und Ganzen bereits aus Berliner Zeiten kennt. Zu seinen Idolen erwählt er mit Walther Rathenau und Gustav Stresemann selbstbewusst die bürgerlich-liberalen Top-Diplomaten der Weimarer Epoche – und dass er sich mit diesem Vergleich keineswegs überhebt, sondern seine Vorgänger in der Bonner Nachkriegsrepublik deutlich in den Schatten stellt, bestätigt ihm am Ende seiner dreieinhalbjährigen Amtsperiode selbst der Historiker Golo Mann.
Tatsächlich scheint ihm der neue Job wie auf den Leib geschnitten. In dem traditionell zur Eigenbrötelei neigenden Beamtenapparat, der mehrheitlich noch veralteten gesellschaftlichen Leitbildern anhängt, gilt er praktisch vom ersten Tage an als fachlich versiert, während die Gesprächspartner im Ausland zu schätzen wissen, was daheim bislang nur selten honoriert worden ist: Das beträchtliche persönliche Vertrauenskapital, von dem der polyglotte Deutsche mit dem schicken Handköfferchen und dem unentwegt glimmenden Zigarillo im Mund auf den zahllosen Reisen in alle Welt zehrt, verdankt er ja gerade seiner Vita.
Das sei «nicht die schlechteste Visitenkarte», freut sich Brandt, und die verschafft ihm auf Anhieb umso größere Akzeptanz, als sich mit seinem Namen Leistungsnachweise verbinden. Die frühe, bereits im skandinavischen Exil in einer Reihe von «Studien» dokumentierte Leidenschaft für ein geeintes Europa und seine später als Berliner Stadtoberhaupt bekundete Treue zum Nordatlantikpakt gereichen ihm in den internationalen Gremien rasch zum Vorteil. Schon nach den ersten Auftritten – im Dezember 1966 bei einer Nato-Tagung in Paris und im darauffolgenden Februar in Washington – lobt das Gros der Medien sein solides Augenmaß und Vermittlungsgeschick.
Um «im Inneren wie nach außen» neue Akzente zu setzen, konzentriert sich der Minister auf «Orientierungspunkte», die ihm auch selbst den nötigen Halt geben sollen. Neben dem Willen zum Frieden, dem «Fundament» seines
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