Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Kapelle überhaupt nicht verlassen, weil da gerade eine Dame kam, die gern die Schnitzereien und das Retabel sehen wollte.«
»Und ist die Dame auch durch den Bogengang gekommen?«
»Ja, Sir, und darum möchten wir diese Dame gern ausfindig machen, weil wir meinen, daß sie ungefähr zur Mordzeit durch den Bogengang gekommen sein muß. In die Kapelle ist sie kurz vor Viertel nach zehn gekommen, denn der Küster kann sich noch erinnern, daß gleich darauf die Uhr schlug und die Dame etwas über den schönen Klang sagte. Sie haben die Dame doch hereinkommen sehen, nicht wahr, Mr. Dabbs?«
»Ich habe eine Dame hereinkommen sehen«, antwortete der Pförtner, »aber ich sehe hier viele Damen hereinkommen. Die Betreffende kam etwa um zehn Uhr von der Bodleiana her. Es war eine ältere Dame, ziemlich altmodisch gekleidet, den Rock bis zu den Füßen hinunter und so einen Hut auf dem Kopf, der aussah wie ein Krähennest, mit einem Stück Gummiband hinten. Sah aus wie eine Professorin – jedenfalls wie Professorinnen früher aussahen. Und nervös war sie – zuckte dauernd mit dem Kopf. Von der Sorte sieht man Hunderte. Die setzen sich immer in den Bogengang und lauschen dem Springbrunnen und den lieben Vögelchen. Aber eine Leiche oder einen Mörder – ich glaube, so was würden die nicht mal erkennen, wenn sie davorständen. Ich hab die Dame nicht wiedergesehen, demnach muß sie wohl durch den Garten hinausgegangen sein.«
»Sehr wahrscheinlich«, sagte Radeott. »Dürfen Mr. Egg und ich durch den Bogengang gehen, Konstabler? Das ist nämlich der einzige Weg zu meinem Zimmer, sofern wir nicht außenherum durchs Scholastikertor gehen.«
»Die andern Tore sind alle zu, Sir. Gehen Sie nur und sprechen Sie mit dem Kriminalrat; er läßt Sie sicher durch. Sie treffen ihn im Bogengang mit Professor Staines und Dr. Moyle.«
»Dem Bibliothekar der Bodleiana? Was hat denn der damit zu tun?«
»Man hofft, daß er die Dame vielleicht kennt, wenn sie eine Benutzerin der Bodleiana ist.«
»Ach so. Also, dann kommen Sie, Mr. Egg.«
Radeott führte ihn über den Großen Hof und durch einen dunklen kleinen Durchgang in einer Ecke in den kühlen Schatten des Bogengangs. Eingerahmt von Säulen aus uraltem Gestein döste der grüne Rasen still in der Mittagssonne vor sich hin. Nichts war zu hören, nur das Echo ihrer eigenen Schritte, das helle Plätschern des kleinen Springbrunnens und das gedämpfte Tschilpen der Buchfinken, als sie über den steinernen Weg abwechselnd durch Licht und Schatten gingen. Etwa in der Mitte des nördlichen Bogengangs stießen sie wieder auf so einen düsteren überdachten Durchgang, vor dem ein Polizeisergeant kniete und mittels einer elektrischen Taschenlampe den Boden absuchte.
»Hallo, Sergeant!« sagte Radeott. »Auf Sherlock Holmes’ Spuren, wie? Zeigen Sie uns doch mal die blutigen Fußabdrücke.«
»Leider keine Spur von Blut, Sir. Würde uns die Arbeit sehr erleichtern. Und auch keine Fußabdrücke. Der arme Mann hat eins über den Schädel gekriegt, und wir glauben, daß der Mörder da oben gestanden hat, denn Dr. Greeby war sehr groß, und trotzdem hat er den Schlag mitten auf den Kopf bekommen, Sir.« Der Sergeant zeigte auf eine kleine Nische im Mauerwerk, einem zugemauerten Fenster ähnlich, etwa einen Meter zwanzig über dem Boden. »Anscheinend hat er hier auf Dr. Greeby gewartet, Sir.«
»Dann muß er mit den Gewohnheiten seines Opfers sehr vertraut gewesen sein«, meinte Mr. Egg.
»Ach was«, gab Radeott zurück. »Er brauchte nur einen Blick auf den Vorlesungsplan zu werfen, dann kannte er Zeit und Ort. Dieser Durchgang führt zum Haus des Rektors und in den Dozentengarten und sonst nirgendwohin, und das ist der Weg, den Dr. Greeby nach der Vorlesung selbstverständlich gehen würde, falls er nicht noch eine andere Vorlesung hatte, und die hatte er nicht. Muß ganz schön behende gewesen sein, Ihr Mörder, um da hinaufzukommen, Sergeant. Zumindest – ich weiß nicht.«
Ehe der Polizist ihn daran hindern konnte, hatte er mit der Hand nach der Innenkante der Nische gefaßt, einen Fuß auf ein vorspringendes Mauerband darunter gestellt und sich hinaufgeschwungen.
»He, Sir, kommen Sie bitte da runter. Das würde dem Chef gar nicht gefallen.«
»Warum? Lieber Gott, ja – Fingerabdrücke wahrscheinlich. Hab ich ganz vergessen. Macht nichts. Sie können meine haben, zum Vergleichen. Das hält Sie in Übung. Jedenfalls käme ein Säugling im Kinderwagen da rauf. Kommen Sie, Mr.
Weitere Kostenlose Bücher