Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Egg. Wir verduften lieber, bevor ich wegen Behinderung der Staatsgewalt eingesperrt werde.«
Aber in diesem Augenblick wurde Radeott von einem besorgt dreinblickenden Professor angerufen, der in Begleitung von noch ein paar anderen Leuten von der andern Seite durch den Gang kam.
»Oh, Mr. Radeott! Einen Moment, Herr Kriminalrat, dieser junge Mann kann Ihnen sicher sagen, was Sie wissen möchten, er war in Dr. Greebys Vorlesung. So ist es doch, Mr. Radeott?«
»Hm, nein, nicht direkt, Sir«, antwortete Radeott leicht verlegen. »Ich hätte dort sein sollen, aber durch einen dummen Zufall habe ich ge … – das heißt, ich war auf dem Fluß, Sir, und bin nicht rechtzeitig zurückgekommen.«
»Sehr ärgerlich!« sagte Professor Staines, während der Kriminalbeamte nur bemerkte:
»Haben Sie einen Zeugen dafür, daß Sie auf dem Fluß waren, Sir?«
»Keinen«, antwortete Radeott. »Ich war allein in einem Kanu auf einem toten Arm – eifrig Aristoteles studierend. Aber ich habe den Rektor wirklich nicht umgebracht. Seine Vorlesungen waren – wenn ich das sagen darf – langweilig, aber so nervtötend auch wieder nicht.«
»Das ist eine unverschämte Bemerkung, Mr. Radeott«, sagte der Professor streng, »und außerordentlich geschmacklos.«
Der Kriminalrat brummelte etwas von Routine und trug die von Radeott angegebenen Zeiten für Aufbruch und Rückkehr in ein Notizbuch ein, dann sagte er:
»Ich glaube nicht, daß ich einen der Herren noch länger aufhalten muß. Wenn wir Sie noch einmal sprechen möchten, Mr. Temple, melden wir uns bei Ihnen.«
»Gewiß, gewiß. Ich esse nur noch rasch ein Sandwich in der Cafeteria und gehe dann wieder in die Bibliothek. Was die Dame betrifft, kann ich nur wiederholen, daß sie von ungefähr halb zehn bis kurz vor zehn an meinem Tisch gesessen hat und um halb elf wiedergekommen ist. Sehr unruhig und störend. Ich wünschte, Dr. Moyle, Sie könnten es irgendwie einrichten, daß ich einen Tisch für mich allein bekomme, oder daß mir ein fester Platz in der Bibliothek angewiesen wird. Damen sind immer unruhig und störend. Sie war noch immer da, als ich ging, aber ich hoffe sehr, daß sie jetzt endlich gegangen ist. Sie wollen mich wirklich nicht gleich verhaften? Ich stehe voll zu Ihrer Verfügung.«
»Jetzt noch nicht, Sir. Sie hören demnächst von uns.«
»Danke, danke. Ich möchte ganz gern noch mein Kapitel beenden. Dann wünsche ich Ihnen fürs erste einen guten Tag.«
Die kleine gebeugte Gestalt entfernte sich, und der Kriminalrat tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn.
»Armer Mann! Aber natürlich völlig harmlos. Ich brauche Sie gewiß nicht zu fragen, Dr. Moyle, wo er sich zur Tatzeit aufgehalten hat?«
»Er saß in seiner gewohnten Ecke in Duke Humphreys Bibliothek. Auf Befragen gibt er das sogar zu. Außerdem weiß ich ganz genau, daß er heute morgen dort war, denn da wollte er ein Phi-Buch haben und mußte sich deswegen an mich persönlich wenden. Um halb zehn hat er darum gebeten, und um Viertel nach zwölf hat er es zurückgegeben. Was die Dame betrifft, glaube ich, daß ich sie schon einmal gesehen habe. Eine von der alten Schule gelehrter Damen, denke ich. Wenn sie eine Außenleserin ist, muß ich ihre Adresse irgendwo haben, aber sie könnte natürlich auch Mitglied der Universität sein. Ich kann Ihnen leider nicht garantieren, daß ich sie alle vom Sehen kenne. Aber ich will mich erkundigen. Es ist überhaupt durchaus möglich, daß sie jetzt noch in der Bibliothek sitzt, und wenn nicht, könnte Franklin wissen, wann sie gegangen ist und wer sie ist. Ich werde der Sache sofort nachgehen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, Professor, wie sehr ich diese traurige Geschichte beklage. Armer, guter Greeby! So ein Verlust für die klassischen Wissenschaften!«
An diesem Punkt der Unterhaltung zog Radeott Mr. Egg sanft mit sich fort. Nachdem sie noch ein Stückchen dem Bogengang gefolgt waren, wandten sie sich in einen etwas breiteren Durchgang, der sie in den Innenhof führte, dessen eine Seite von der Kapelle eingenommen wurde. Sie stiegen auf der gegenüberliegenden Seite drei dunkle Steintreppen hinauf und kamen so in Radeotts Zimmer, wo der Student seinen neuen Bekannten mit sanfter Gewalt in einen Sessel plazierte, ein paar Flaschen Bier unter der Fensterbank hervorholte und ihn aufforderte, es sich bequem zu machen.
»Na«, meinte er dann, »da haben Sie ja gleich eine muntere Einführung in das Oxforder Leben bekommen – ein Mord und ein
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