Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Verrückter. Der arme alte Temple. Eines unserer Prachtexemplare. War früher mal Professor hier, ist aber eine Ewigkeit her. Es hat irgendwelches Theater gegeben, und dann ist er für eine Weile verschwunden. Als er wiederkam, vor ungefähr zehn Jahren, war er völlig plemplem; hat sich im Holywell ein Zimmer genommen und plagt seitdem abwechselnd die Bodleiana und die Polizei. Im übrigen ein hervorragender Gräzist – und ganz vernünftig, bis auf den einen Punkt. Hoffentlich findet Moyle seine geheimnisvolle Dame, obwohl es natürlich blanker Unsinn ist, daß sie alle Bibliotheksbenutzer unter Kontrolle hätten. Man braucht nur sicheren Schrittes hineinzugehen und so zu tun, als ob man dort zu Hause wäre, und wenn man angehalten wird, sagt man nur beleidigt, daß man schon seit Jahren Leser ist. Wenn Sie sich einen Talar leihen, wird man nicht einmal Sie aufhalten.«
»Stimmt das wirklich?« fragte Mr. Egg.
»Sie können es gern ausprobieren. Nehmen Sie meinen Talar, spazieren Sie rüber zur Bodleiana, gehen Sie geradewegs an den Schaukästen vorbei und durch die kleine Drehtür mit der Aufschrift ›Nur für Leser‹ weiter in Duke Humphreys Bibliothek; dort können Sie tun, was Sie wollen, solange Sie nur keine Bücher stehlen oder Feuer legen
– und wenn irgend jemand Sie anspricht, bestelle ich bei Ihnen sechs Dutzend vom besten Portwein, den Sie anzubieten haben. Ist das ein Angebot?«
Mr. Egg nahm das Angebot bereitwillig an, und wenige Augenblicke später sah man ihn in einem Studententalar die Treppe emporsteigen, die zu Englands berühmtester Bibliothek führt. Ein wenig zitternd stieß er die gläserne Schwingtür auf und trat in die geheiligte Atmosphäre vermodernden Leders, die solchen Tempeln der Gelehrsamkeit eigen ist.
Kaum drinnen, begegnete er Dr. Moyle, der sich mit dem Pförtner unterhielt. Mr. Egg beugte sich wie selbstverständlich über ein unleserliches Manuskript in einer Vitrine, und es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, mitzuhören, worüber die beiden sich unterhielten, denn wie alle, die mit der Aufsicht über Lesesäle betraut sind, gaben sie sich keinerlei Mühe, ihre Stimmen zu dämpfen.
»Ich kenne die Dame, Dr. Moyle. Das heißt, sie war in letzter Zeit ein paarmal hier. Sie trägt gewöhnlich den Talar eines Master of Arts. Heute morgen habe ich sie auch hier gesehen, aber ich habe nicht bemerkt, wann sie gegangen ist. Ich glaube nicht, daß ich ihren Namen je gehört habe, aber weil ich sah, daß sie zum Lehrkörper gehört –«
Mr. Egg hörte nicht länger zu. In seinem Kopf keimte ein Gedanke. Er ging weiter, stieß kühn die Drehtür zum Lesesaal auf und trat erhobenen Hauptes in den feierlichen, mittelalterlichen, langgestreckten Saal, der Duke Humphreys Bibliothek bildete. In der entlegensten und dunkelsten Ecke beobachtete er Mr. Temple, der offenbar sein Sandwich gegessen und den Mord vergessen hatte und nun, verschanzt hinter einem Stapel Bücher und einer großen offenen Aktentasche voller Papiere, allein dasaß und emsig schrieb.
Mr. Egg beugte sich über den Tisch und flüsterte ihm in beschwörendem Ton zu:
»Entschuldigen Sie, Sir. Der Herr Kriminalrat läßt Ihnen ausrichten, daß er die Dame gefunden zu haben glaubt, und ob Sie so freundlich sein könnten, sofort zu ihm zu kommen und sie zu identifizieren.«
»Die Dame?« Mr. Temple schaute mit leerem Blick auf.
»Ach ja – die Dame. Natürlich. Jetzt sofort? Das kommt mir nicht sehr gelegen. Ist es so dringend?«
»Man hat mir ausdrücklich aufgetragen, Sie möchten keine Zeit verlieren, Sir«, sagte Mr. Egg.
Mr. Temple brummelte etwas, stand auf, schien zu zögern, ob er seine Papiere zusammenräumen sollte oder nicht, und stopfte sie schließlich alle in seine ausgebeulte Aktentasche, die er verschloß.
»Erlauben Sie mir, Ihre Tasche zu tragen, Sir«, sagte Monty, indem er sie ohne zu zögern ergriff und Mr. Temple rasch aus der Bibliothek führte. »Die Herrschaften sind noch im Bogengang, glaube ich, aber der Kriminalrat hat gemeint, Sie möchten freundlicherweise ein paar Sekunden in der Pförtnerloge auf ihn warten. Da sind wir schon.«
Er übergab Mr. Temple und die Tasche dem Pförtner, der ein wenig erstaunt schien, Mr. Egg so plötzlich im akademischen Gewand zu sehen, aber nichts sagte, als er den Namen des Kriminalrats hörte. Mr. Egg eilte durch den Großen Hof und den Bogengang und sprang die Treppe zu Mr. Radeotts Zimmer hinauf.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er atemlos
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