Wind Der Zeiten
zu hören. Hier musste es sein. Die Tiere senkten sofort ihre Köpfe und tranken durstig. Dabei wateten sie durch das flache Wasser zum gegenüberliegenden Ufer, an dem ich von Brandubhs Rücken glitt. Mir tat jeder Knochen weh. Es war schon lange her, dass ich einen ausgedehnten Ritt durch eine so schwierige Landschaft gemachte hatte, und morgen würde ich bestimmt einen mächtigen Muskelkater haben. Außerdem hatte ich seit Stunden nichts mehr gegessen, und mein Magen knurrte.
Dagegen half nur Bewegung beziehungsweise das leckere Picknick, das Caitlynn mir zubereitet hatte. Zuerst aber befreite ich den Wallach von seiner Last und lockerte Brans Sattelgurt. Die Pferde rupften das frische Gras am Ufer, und ich verzichtete darauf, sie anzubinden. Bran ließ mich ohnehin nicht aus den Augen, und der Wallach würde seine kleine Herde ebenfalls nicht freiwillig verlassen. Schnell warf ich ihnen noch einige Handvoll Hafer hin und begann mit der Suche nach den Steinen.
Eine halbe Stunde später hatte ich die gesamte Umgebung vergeblich abgesucht. Ich war auf diverse Lichtungen gestoßen und über mehr als nur einen Felsbrocken gestiegen, aber eine prähistorische Kultstätte hatte ich nicht entdecken können. Enttäuscht kehrte ich zum Lagerplatz zurück, bückte mich, um eines der sternförmigen Blümchen zu pflücken, und in dem Moment sah ihn: einen roten Stein, der so gar nicht zu den übrigen Felsen und dem Geröll passte. Keine zehn Meter
vom Felsplateau entfernt hatten die Pferde ihn offenbar auf der Suche nach etwas Fressbarem freigescharrt, denn hier oben war das Grün im Mai noch spärlich. Ich fiel auf die Knie und kratzte die restliche Erde beiseite. Nicht nur die Farbe, auch die Form war außergewöhnlich. Ganz flach, kreisrund und etwa handtellergroß, war er in die Erde eingelassen. Mit dem Ärmel wischte ich die Oberfläche sauber, bis ein eigenartiges graues Symbol zum Vorschein kam. Es sah aus, wie in den Himmel aufragende Zweige eines alten Baums. Zuerst dachte ich, dass es aufgemalt war, aber als ich mit den Fingerspitzen darüberstrich, wurde mir bewusst, dass ich eine meisterhafte Einlegearbeit vor mir hatte. Unglaublich. Rasch fand ich nun, da der Anfang gemacht war, auch die anderen zwölf Steine und legte sie mit bloßen Händen frei. Am Ende hatte der Kreis einen Durchmesser von etwa vier Metern. Ich ging ein zweites Mal von Stein zu Stein und reinigte die unterschiedlichen Zeichen, die sich darauf befanden. Jedes zeigte ein anderes Motiv aus der Natur. Ich konnte zwar nur raten, weil sie allesamt stilisiert waren, aber einen Vogel hatte ich zweifelsfrei erkannt, Sonne, Mond und einen Fisch oder Seehund, von denen es viele an den schottischen Küsten gab. Es kam mir vor, als habe der Ort nur auf seine Befreiung gewartet. Der Vogelgesang war mir zuvor nicht besonders aufgefallen, doch jetzt klang er zauberhaft. Der warme Wind umschmeichelte mich wie eine zärtliche Liebkosung. Die Atmosphäre wirkte verändert, und etwas Magisches schien in der Luft zu liegen.
Oder lag es doch an meinem Magen, der so laut knurrte, dass die Pferde neugierig ihre Köpfe hoben? »Okay, ihr zwei. Ich habe wieder einmal das Essen vergessen und nun vermutlich Halluzinationen«, lachte ich und begann, die Picknicktasche
auszupacken. Die Steine hatten so lange dort gelegen, sie würden es verkraften, wenn ich ihnen meine ungeteilte Aufmerksamkeit erst schenken würde, nachdem ich mich gestärkt hatte. Weil mein Fotoapparat ärgerlicherweise auf dem Tisch in meinem Zimmer lag, wollte ich nachher versuchen, die Symbole zu zeichnen und demnächst mit meiner Kamera noch einmal zurückkommen, um sie zu fotografieren.
Als ich zum Kreis hinübersah, glaubte ich schon die Touristen staunend herumstehen zu sehen. Wieso wusste die Welt hiervon nichts? Wissenschaftler wären bestimmt interessiert, man würde eine Straße bauen, um dieses fantastische Zeugnis einer längst vergessenen Kultur jedermann zugänglich zu machen; Absperrungen errichten und vielleicht sogar Posten aufstellen müssen, damit sie niemand ausgrub und stahl. Etwas, das bei den großen Steinkreisen heutzutage zum Glück niemand mehr versuchen würde. Und plötzlich verstand ich, warum Iain bisher keine Gruppen hierhergeführt hatte. Auf der Suche nach dem einzigartigen Zauber dieses besonderen Ortes würden sie ihn unweigerlich zerstören. Ob er darauf gehofft hatte, ich käme zur gleichen Erkenntnis?
Meine Lippen sind versiegelt , versprach ich dem Kreis,
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