Wind Der Zeiten
Gelegenheit, mich umzusehen. Die grünen Wiesen um Loch Cuilinn unter uns waren übersät mit Gehöften, die meisten von niedrigen Mauern umrahmt und auf kleinen Erhebungen erbaut. Offenbar fürchteten die Bewohner, dass die Rinnsale, die sich hinab in den See schlängelten, über die Ufer treten könnten. Zwischen den Feldern und Wiesen wuchs immer wieder Buschwerk, zwischendurch passierten wir sogar mehrere kleine Wäldchen. Die Häuser waren kaum mehr als Hütten, mit Schilf und Gräsern gedeckt, die von Stricken festgezurrt und mit Feldsteinen beschwert waren. Andere Dächer, weiter oben, wo das Grün karger wurde, schienen mit Grassoden, Heidekraut und Farn belegt zu sein. Diese Katen schmiegten sich an die stellenweise
steilen Hänge, als wollten sie nicht gesehen werden. Aus Dächern oder Kaminen stiegen graue Rauchsäulen in den Himmel, und in der Luft lag der kratzige Geruch zahlloser Torffeuer. Ich sah Menschen auf den winzigen Feldern, die in der Abendsonne arbeiteten. Ihre Ernte transportierten sie auf einfachen Karren, die von struppigen Ponys und manchmal von Ziegen gezogen wurden, oder auf dem eigenen Rücken nach Hause. Von Ferne schienen sie uns zu beobachten, aber niemand kam nahe genug, um einen Gruß zu entbieten. Die Frauen trugen lange, weite Röcke, darüber einen knielangen Kittel mit Schürze, und fast immer ein Kopftuch. Die wenigen Männer, die ich sah, waren beinah ausschließlich ebenso gekleidet wie die Kerle, die uns oben im Wald entdeckt hatten. Eigenartigerweise wirkten viele Gesichter verschlossen, sobald man Alan erkannte, doch auf diese Entfernung konnte ich mich auch täuschen. Die gesamte Szenerie machte den Eindruck, als habe jemand ein historisches Gemälde nachgestellt und um das Bild komplett zu machen, thronte über all dem eine Burg auf einer bewaldeten Anhöhe. Nein, nicht irgendeine, sondern die Burg, deren Abbild ich vorhin im Wasser des Sees zu sehen geglaubt hatte. Ein Zittern rann durch meinen Körper. Irgendetwas war hier schrecklich falsch.
Alan musste die in mir aufkeimende Panik gefühlt haben, denn er legte seinen Arm fester um meine Taille und murmelte Worte, deren Bedeutung ich zwar nicht kannte, die zusammen mit seiner tiefen, ruhigen Stimme aber dafür sorgten, dass ich mich allmählich entspannte.
»Alles ist gut, Mädchen. Du musst keine Angst haben.«
Dieses eine Mal ließ ich es mir gern gefallen, wie ein hilfloses Kätzchen behandelt zu werden, denn ich fühlte mich auch so.
Als er wenig später mit einem gemurmelten Fluch das Pferd um die Siedlung am See herumlenkte, auf deren unbefestigten Wegen es recht lebhaft zuging, war ich ihm regelrecht dankbar. Trotz seines ansonsten eigentümlichen Verhaltens schien er zumindest nicht vorzuhaben, mich zum Gespött des gesamten Tals zu machen.
Bald ritten wir erneut bergauf und erreichten ein winziges Torhaus, das, weiß gestrichen und mit einem rauchenden Kamin ausgestattet, vergleichsweise neu wirkte. Es war sogar mit flachen Schindeln gedeckt. Brandubh durchschritt ein steinernes Tor, an dem – halb geöffnet – zwei Eisenpforten hingen. Sie sahen nicht aus, als würden sie häufig bewegt. Warum auch, man konnte problemlos rechts oder links vorbeireiten, und dass dieser Weg je einen größeren Wagen oder eine Kutsche gesehen hatte, bezweifelte ich allmählich sowieso. Irgendwo musste es eine weitere Zufahrt geben.
Ein kleines Mädchen kam aus dem Haus, dicht gefolgt von einem etwa zwölfjährigen Jungen, der sie mit beschützender Geste hinter sich schob, bevor er respektvoll grüßte. Ich sah Furcht in seinen Augen und hörte Alan seufzen, bevor er dem Kind knapp zunickte. Als ich mich umdrehte, winkte das Mädchen, und ich hob meine Hand ebenfalls zum Abschied. Die Kleine lachte und winkte nun mit beiden Armen, bis der Junge sie kurzerhand schnappte und zurück ins Haus zerrte. Seltsame Kinder.
Wir folgten eine Weile dem sanft geschwungenen Weg, der sich zwischen Kiefern, Birken und Farnen hindurch die Anhöhe hinaufschlängelte. Auf einmal lag die Burg vor uns. Sie wirkte überwältigend. Von der einstigen Schutzanlage schien nur der mittelalterliche Turm aus recht grob behauenen Felsen übrig geblieben zu sein. Schmale Fensteröffnungen waren
so angeordnet, dass sie wie ein finster blickendes Gesicht wirkten. Dicht an diesen abweisenden Turm geschmiegt war ein Wohnhaus, wie ich es eher im französischen Burgund als hier in den Highlands erwartet hätte. Mit seinen hohen Giebeln und den
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