Wind & Der zweite Versuch
zerbröselten Illustrierten aus dem letzten Jahrhundert gesehen hatte. Und das Kleid brauchte eine Knopfleiste. Der oberste Knopf würde geöffnet sein, um ein bißchen Haut zu zeigen.
»Ich bin ein Profi«, sagte sich Leon. »Ein Profi, der Werberepliken für Baumwollkleider entwirft, die niemals schmutzig werden.« Und er schüttelte über sich selbst den Kopf.
Es regnete, wie schon seit mindestens einem Jahrhundert. Aus allen Himmeln regnete es über alle Etagen des Urwalds hinab auf dieses Zelt, und das gute Dutzend anderer Zelte, in denen sich die Schwadron verkrochen hatte. Der Regen wusch das Grün von den Blättern der Würgfeigen und Teakbäume, der Kannenpflanzen und der Lianen, der Orchideen und Bananen. Hatte es früher auch so geregnet? Er konnte sich nicht erinnern. Manchmal glaubte Jorge, dieser Dauerregen sei eine Erfindung der Gringos, mit der sie die Guerilla ersäufen wollten, während sie selbst in ihren Hypercoptern und auf ihren schwebenden Plattformen über den Kronen der Bäume im Trockenen saßen.
»Die Amerikaner lassen es regnen, Ana«, sagte er halblaut in die zehn Kubikmeter kühlen und feuchten Raums hinein, die das halb in den Boden gegrabene Zelt umschloß, »es sind die Amerikaner.«
Als Antwort hörte er nur ein erbärmliches Wimmern, das vielleicht eine Bestätigung sein sollte. Ana war krank, und Jorge sah fern. Er sah sich eine Dokumentarsendung auf dem Allamerikakanal von ACN an (The voice both the Americas listen to). Es war diesen knallverrückten Gringos tatsächlich gelungen, eine Replik der Saturn-V unbemannt ins All zu schießen, zwar hatte die oberste Stufe nicht gezündet, und was beim Wiedereintritt nicht verglüht war, war reichlich unspektakulär und unauffindbar im Atlantik versunken, aber sie schienen es wirklich ernst zu meinen mit ihrem Zweiten Versuch. Der stand bei den TV-Netzen jetzt schon seit zwei Jahren auf der Tagesordnung, seit ihre Präsidentin gesagt hatte, man werde den Anlauf von 1969 zum Mond wiederholen, weil sich Amerika das schuldig sei. Jorge zog an seiner Zigarette, während er sich den hauchdünnen Bildschirm, der von innen heraus erleuchtet zu sein schien, wie ein Blatt Papier vor Augen hielt. Man konnte die Rakete starten, aufsteigen, wie eine heiße Nadel ins blaue Tuch des Himmels fahren sehen, unter der Begleitmusik erregter und ehrfürchtiger Kommentare, die nichts als Begeisterung ausdrückten. Wie eine Nadel, die eine Fahne zusammennäht, dachte Jorge.
»Die Amerikaner schießen Raketen zum Mond, Ana. Die Nation darf wieder etwas kosten.« Er zog an seiner Zigarette. »Weißt du, was das für uns heißt? Noch ein paar Jahre, und dann ist Amerika wieder stark. Los estados unidos, du verstehst, wieder vereint, wie vor ihrem Bürgerkrieg. Und dann haben wir nicht nur die corporates am Hals, sondern auch wieder die USAF mit Flugzeugträgern und Hypercoptern und Marines mit M-30 Gewehren.«
Ich rede wie ein Verräter, dachte er. Er seufzte. Diese Stimmung kannte er nur zu gut. 120 Kämpfer verloren, mindestens, in den letzten drei Monaten. Mangel an Munition, Waffen, Nahrung und Medikamenten. Ana konnte an dieser Lungenentzündung sterben, wenn es sein mußte. Das Nachrichtennetz zwischen den kämpfenden Einheiten war dünn geworden. Zuviele Boten erwischt, zuviele Depots gefunden. Nicht mehr viel machbar, außer riskanten Nadelstichen in den Arsch der corporates, Pflanzungen der Obstbarone rasieren, Baumaschinen sabotieren, Bombenanschläge auf schlecht bewachte Fuhrparks. Ein gekaufter Bürgermeister hier und eine Patrouille dort. Nadelstiche, eigentlich schon seit Jahren. Jorge seufzte. Er drückte auf ein Impulsfeld an der L-förmigen Bedienungseinheit des Fernsehers, und der Bildschirm faltete sich zu einem nahtlosen grauen Keks zusammen, der sich eng an das L-Modul anschmiegte. Sehr feines Maschinchen, sehr sehr fein, es futterte einfach die Fernsehwellen, die durch es hindurchflossen, und auf seinem Schirm das Echo der Bilder hinterließen. Die Batterie, die in ihm steckte, diente nur dazu, die Energie, die es dem Feld entnahm, auch wieder in es zurückzuspeisen, aufs Quant genau. Die Idee dabei war gewesen, weiterhin gebührenfreies Fernsehen möglich zu machen; auch in den Ländern, in denen die Beitragscowboys der Rundfunkstationen Polizeigewalt hatten und mit Schußwaffen an den Gürteln in der Gegend herumliefen. In entfaltetem Zustand durfte kein Wasser drankommen, verpackt konnte dem Ding nichts etwas anhaben, Jorge war
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