Wind Die Chroniken von Hara 1
genügend Zeit bliebe, die Suche mit herkömmlichen Mitteln fortzusetzen.
Vor allem, da sie stets vom Glück begünstigt gewesen war. Sie brauchte ja bloß an jenen Tag zu denken, an dem sie sich wie durch ein Wunder vor den Häschern Sorithas hatte retten können. Rethar war damals gestorben, doch sie selbst hatte sich von Ghinorha getrennt, bevor diese in die Erlika-Sümpfe gejagt wurde. Oder daran, wie … Nein, sie wollte sich lieber nicht daran erinnern, wie sie den letzten Anschlag auf ihr Leben überstanden hatte. Denn dabei hatte sie ihren Körper eingebüßt.
Und dennoch: Am Ende fiel sie zunehmend der Verzweiflung anheim. Sie fürchtete, den Schützen nicht vor Rowans Eintreffen in der Stadt zu finden.
Doch dann wendete sich das Blatt. In einem Augenblick, da sie am wenigsten damit rechnete: Mitten in der Nacht wurde sie durch etwas geweckt. Sie stand auf, verließ den Speicher, in dem sie sich einquartiert hatte, und ging zum Meer hinunter. Am Rande ihres Bewusstseins nahm sie Porks Gewinsel wahr, der sie anflehte, ihn in Ruhe zu lassen und ihm zu erlauben, nach Hause zurückzukehren. Gerade als sie ihm befahl, endlich den Mund zu halten, machte sie am Pier zwei Männer aus. Selbst im Dunkeln erkannte sie den blonden Bogenschützen, denn die durch einen Zauber gewirkte Markierung hing deutlich sichtbar über ihm.
Am liebsten hätte sie den Dreckskerl auf der Stelle beim Schlafittchen gepackt und alle Antworten aus ihm herausgeschüttelt. Aber Thia machte nie zweimal denselben Fehler. Und ihr war nur zu gut in Erinnerung, was geschehen war, als sie ihrem Zorn in jenem verlassenen Dorf die Zügel hatte schießen lassen. Trotzdem würde er diesmal seiner gerechten Strafe nicht entkommen. Sie musste sich nur noch ein wenig gedulden.
Daraufhin nahm sie den anderen Mann näher in Augenschein. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt, doch offenbar handelte es sich bei ihm nicht um jenen Dämonenbeschwörer, der sie so geschickt ausgeschaltet hatte. Sie gestattete es sich, auf einen Bruchteil ihrer Gabe zurückzugreifen, um ihn zu mustern.
Ihr stockte der Atem.
Vor ihren Augen tanzten bunte Flecken. Die Schläfen presste ein stumpfer Schmerz zusammen. Der Unbekannte verfügte über die Gabe. Noch dazu in einem Ausmaß, dass sie sich am liebsten verkrochen und sich den Göttern, an die sie nicht glaubte, empfohlen hätte. Dergleichen hatte Thia noch nie bei einem Menschen beobachtet. In diesem Mann brodelte weder die lichte noch die dunkle Kraft – sondern die ursprüngliche, unerreichte und übermächtige Kraft. Ihr gegenüber nahm sich ihrer aller Potenzial wie ein Regentropfen gegenüber einem Ozean aus. Dieser Kerl könnte sie alle mit seinem kleinen Finger zerquetschen, mühelos und gleichsam im Vorbeigehen. Das, was die Magier dieser Welt seit Anbeginn der Zeiten den Funken nannten, musste man bei ihm einen regelrechten Feuerball nennen, der ständig die Form änderte und pulste, als wäre er lebendig. Der aus zahllosen tanzenden Schatten gewebt schien. Wie betört verfolgte Thia diesen Tanz, mit jeder Sekunde von größerer Beklommenheit erfasst. Trotzdem konnte sie die Augen nicht von jenem
Blick
abwenden, mit dem das Reich der Tiefe selbst sie betrachtete.
Dann wurde Thia schwindlig. Am liebsten hätte sie geschrien und wäre davongerannt, nur um diese unglaubliche, mächtige, alte und ursprüngliche Kraft nicht spüren zu müssen. Aber sie schaffte es nicht, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Macht der Schatten schien sie zu bannen wie offenes Feuer einen Falter.
Und dann endete alles so abrupt, als habe jemand eine Kerze ausgeblasen. Der Schmerz verschwand. Sie sah den Feuerball nicht länger, fühlte nicht länger jene Gabe, die so alt wie die Welt selbst war. Jemand hatte ihr die Tür, die ins Reich der Tiefe führte, vor der Nase zugeschlagen. Kurz darauf ging der blonde Schütze davon. Verzweifelt starrte sie auf seinen Rücken, rührte sich aber nicht von der Stelle. Denn zwischen ihr und dem Bogenschützen stand dieser Unbekannte. Er versperrte Thia den Weg – und sie wagte es nicht, an ihm vorbeizugehen.
Schon bald war der Schütze in der Nacht verschwunden. Eine Welle abgrundtiefer Verzweiflung schlug über ihr zusammen. Nun drehte ihr der Unbekannte den Kopf zu.
Das unter der Kapuze verborgene Gesicht konnte sie zwar nicht erkennen, aber sie spürte seinen Blick. Einen brennenden, schmerzhaften Blick. Aber auch einen … spöttischen? Der Unbekannte musterte sie. In ihrer
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