Wind Die Chroniken von Hara 1
hätten wir das nicht geschafft, mein Freund«, versicherte er. »Im Übrigen haben weder meine Partner noch ich etwas gegen dich persönlich. Wir erledigen bloß unsere Arbeit, für die wir sehr gut bezahlt werden. Das verstehst du doch, oder?«
Na sicher – aber musste ich es ihm deswegen leicht machen?
Ich spürte, wie mir der aufmerksame Blick des Sommersprossigen im Rücken brannte. Der Rock der unsichtbaren Marna raschelte. Über meinem Kopf dräute dieser Aasgeier von Ye-arre. Das Messer des Alten hatte mir inzwischen ein nettes Loch in den Leib gebohrt und fing langsam, aber sicher an, meine Leber zu kitzeln. Mit einem Ohr hörte ich also bereits, wie mir die Diener Meloths ein Liedlein am Tor sangen, das in die Glücklichen Gärten führte.
»Was hast du mit deinem Anteil vor?«, wollte ich von dem Alten wissen.
»Damit kauf ich mir ein Häuschen an einem See. Ich werde angeln und mich an meinen Enkeln ergötzen. Sie sind die Freude meiner alten Tage.«
Daraufhin legte er los: Während wir durch die Straßen liefen, durfte ich mir seine Meinung über das Wetter, Glücksspiele und den Fischfang anhören. Dieser lag ihm besonders am Herzen. Der Alte war ein eingefleischter Angler – was mich auf die Idee brachte, ihn als Köder auf einen riesigen Haken zu spießen und weit ins Meer auszuwerfen, damit ihn irgendein Seeungeheuer fraß.
»Ist ein langer Weg«, brummte der Sommersprossige.
Prompt trieb mir der Alte mit vergnügtem Lächeln das Messer etwas tiefer in den Leib. Ich biss die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. »Mein Freund glaubt, dass du uns für dumm verkaufst.«
»Dem ist nicht so.«
»Trotzdem hat er recht. Wir laufen schon ziemlich lange durch die Gegend. Wenn wir in zehn Minuten nicht am Ziel sind, muss ich mich leider ein für alle Mal von dir trennen, auch wenn du ein überaus angenehmer Gesprächspartner bist.«
»Täte mir auch leid.«
»Also spiel keine Spielchen mit uns, mein Junge. Wohin müssen wir jetzt?«
»Nach links«, antwortete ich.
Als ich aufgebrochen war, hatte Lahen vorm Fenster am Tisch gesessen. Ich hoffte inständig, dass sie dort noch immer in die Pläne von Yokhs Haus vertieft war und zufällig hinaussehen würde. Sicher, diese Hoffnung hing an einem seidenen Faden – aber an den klammerte ich mich mit aller Kraft. Ich drosselte sogar meine Schritte, um möglichst lange in ihrer Sichtweite zu bleiben, was dem Alten jedoch nicht entging.
»Na?«, fragte er und bohrte das Messer abermals ein Stück tiefer. »So nachdenklich?«
»Ich grüble über meinen letzten Wunsch nach.«
»Tut mir leid, aber den werden wir dir ohnehin nicht erfüllen«, erwiderte er. »Und jetzt leg einen Zahn zu!«
Und da kam mir die Erleuchtung. Warum war ich bloß nicht schon eher drauf gekommen?! Ich konnte ja mit Lahen reden! Das hatte ich ganz vergessen, denn in der letzten Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, dass sie mir nicht antwortete. Dabei hatte sie doch in der geheimen Kammer des Skulptors neulich selbst ein paar Worte zu mir gesagt. Und die waren fast schon verständlich gewesen. Außerdem hatte sie mir versichert, ihre Gabe nehme zu mit jedem Tag. Vielleicht hatte mein Augenstern inzwischen also genug Kraft, mich zu hören.
»Lahen!«,
rief ich sie.
»Lahen!«
Eine peinigend lange Sekunde geschah nichts, doch dann rieselte eine warme Welle meine Wirbelsäule hinunter.
»Ness?«
Da ich fürchtete, ihre Kraft könnte sie gleich wieder verlassen, ratterte ich los:
»Sieh aus dem Fenster! Aber vorsichtig!«
Im zweiten Stock bewegte sich sacht die Gardine.
»Ich bin im Bilde«,
sagte sie.
Eine ungeheure Erleichterung erfasste mich. Lahen war gewarnt. Was auch immer mit mir geschehen würde, dieses Quartett würde meinen Augenstern nicht so leicht in die Finger bekommen.
»Ist es hier?«, fragte der Alte mit einem Blick auf die Schenke.
»Ja.«
»Gibt es Aufpasser?«
»Ist mir nicht aufgefallen.«
Keine Ahnung, ob er mir glaubte oder nicht.
»Wie viele Gäste sind da?«
»Einige.«
»Aber wahrscheinlich nicht allzu viele«, entgegnete er. »Dafür habt ihr euch ein zu teures Nest ausgesucht. Wie schön für uns.« Dann wandte er sich nach hinten: »Lös mich ab!«
Nun übernahm es der Sommersprossige, mich mit der Klinge zu kitzeln, damit sein Kumpan von mir wegtreten konnte. So geschickt, wie sie diesen Wechsel über die Bühne brachten, machten sie das nicht zum ersten Mal.
»Ich seh mich mal in der Schenke um«, erklärte der Alte.
Weitere Kostenlose Bücher