Wind Die Chroniken von Hara 1
»Marna, du bleibst hier.«
Ich ließ meinen Blick nach oben schweifen. Der Ye-arre saß auf dem Dach des Nachbarhauses und bleckte genüsslich die Zähne. Daraufhin nahm ich die Frau näher in Augenschein. Sie und der sommersprossige Kerl mussten Verwandte sein, denn auch sie war klein, blond und sommersprossig. Über ihrer Schulter hing eine große Tasche.
»Was glotzt du so?«, schnauzte sie mich an.
»Was hast du in der Tasche?«, fragte ich.
»Das wirst du früh genug erfahren.«
In dem Moment kam der Alte zurück. »Es ist alles sauber. Hör zu, mein Junge, bisher gilt unsere Vereinbarung noch. Und wenn du dein Wort hältst, bleibt das auch so. Also, wo ist dein Zimmer?«
»Im zweiten Stock.«
»Dann vorwärts, Freundchen!«, verlangte der Sommersprossige und unterstrich seine Worte mit verstärktem Messerdruck.
Sie glaubten, sie führten mich zur Schlachtbank. Wenn sich Lahen bloß etwas hatte einfallen lassen!
»Ich bin bereit«,
erklang es da in meinem Kopf.
»
Geh in ein Zimmer in unserem Stockwerk. Es ist acht Schritt von der Treppe entfernt, auf der linken Seite.«
»Verstanden«,
erwiderte ich und betrat die Schenke.
Unten war alles leer, nicht einmal der Wirt stand hinter dem Tresen. Als der Alte bemerkte, wie ich mich umsah, sagte er: »Der Wirt hätte sich an unsere Gesichter erinnern können. Was soll’s, solche Opfer verlangt die Arbeit.«
»Wollt ihr auch allen anderen, denen wir noch begegnen, die Seele aushauchen?«
»Würde das deine Missbilligung finden?«, fragte er zurück und ließ Marna vorbeigehen.
»Am Ende macht ihr euch bei eurer Arbeit die Hände doch ganz schön schmutzig.«
»Dich hat niemand nach deiner Meinung gefragt«, fuhr mich der Sommersprossige an.
Nun lüftete Marna das Geheimnis ihrer Tasche: Sie entnahm ihr eine Armbrust, die zwar weitaus größer war als die, die Garrett trug, aber immerhin kleiner als viele andere. Die hatten bestimmt Meister aus Morassien angefertigt. Das Land war für seine ausgezeichneten Waffen berühmt.
»Wir gehen jetzt langsam hoch. An der Tür klopfst du an. Du sagst, dass du wieder da bist. Dann trittst du zusammen mit meinem Freund zur Seite. Jede unbedachte Geste, jedes Wort zu viel bedeutet einen langen und qualvollen Tod. Für dich und für deine Frau. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Ja.«
»Marna, du musst sie mit dem ersten Schuss ausschalten.«
»Ich habe nicht vergessen, dass sie über die Gabe verfügt«, sagte sie mit erstaunlich tiefer Stimme.
»Dann wollen wir mal!«
Marna ging mit der Armbrust als Erste die Treppe hinauf, ihr folgten der Sommersprossige und ich, während der Alte den Abschluss bildete. Im ersten Stock liefen wir einem Diener in die Arme, der ein Tablett mit leeren Tellern trug. Bevor der Mann überhaupt begriff, was geschah, hatte ihm Marna einen Bolzen in den Körper gejagt. Der Alte sprang erstaunlich behände herbei, fing das Tablett aus den erschlaffenden Händen auf und setzte es behutsam am Boden ab. Dann tötete er den Verletzten, indem er ihm den Hals umdrehte. »Rasch! Weiter!«
Und wieder ging es die Treppe hinauf.
»Du bist gar nicht so schlimm, wie alle immer behaupten, Grauer«, sagte der Sommersprossige plötzlich. »Ich habe gehört, dass du gut mit dem Bogen schießt, aber im Faustkampf völlig versagst. Ehrlich gesagt, habe ich mehr von dir erwartet.«
»Niemand ist vollkommen«, schwadronierte der Alte. »Außerdem solltest du dich lieber nicht beklagen. Oder wäre es dir lieber, er würde sich auf die Hinterbeine stellen?«
Der zweite Stock. Marna hatte ihr gefährliches Spielzeug bereits nachgeladen und lief durch den Gang, blieb dabei aber in Deckung.
»Welche Tür?«, fragte mich der Sommersprossige leise.
Er war nervös und hielt mich fest unterm Arm gepackt. Sein Messer drohte, mir bei einer falschen Bewegung die Seele auszuhauchen.
»Die letzte«, zischte ich, ohne auf den Schmerz in meiner Seite zu achten. »Rechts.«
»Vergiss nicht: keine Dummheiten.«
Ich ging voran und zählte die Schritte. Noch auf der Treppe hatte ich meinen Schwerpunkt etwas nach links verlagert und drückte ein wenig (so, dass es meinem Bewacher auf keinen Fall auffiel) mit dem Ellbogen auf die Hand des Sommersprossigen.
Sechs.
Sieben.
Acht.
Jetzt!
Hinter mir polterte es gewaltig. Das war das Zeichen.
Ich verlagerte mein Gewicht vollends auf den linken Fuß, gleichzeitig rammte ich die Hand des Gijans mit dem Ellbogen zur Seite. In dieser Sekunde traf ein Bolzen den
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