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Wind (German Edition)

Wind (German Edition)

Titel: Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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im Westen kam. Sein Heulen um die Giebel erinnerte mich an eine Geschichte, die meine Mutter mir vorgelesen hatte, als ich selbst noch ein Klein-Puffpuff gewesen war: die Geschichte vom unerschrockenen Tim, seinem bösen Stiefvater und dem Stoßwind, den Tim in den Großen Wäldern nördlich von Neu-Kanaan überstehen musste. Der Gedanke an den Jungen, der in diesem Wald allein war, hat mir stets kalte Schauder über den Rücken gejagt, genau wie Tims Tapferkeit mir immer das Herz erwärmt hat. Die Geschichten, die wir in unserer Kindheit hörten, prägten sich uns fürs ganze Leben ein.
    Nach einer besonders starken Bö – der Wind in Debaria war warm, nicht kalt wie ein Stoßwind –, die das Gebäude seitlich traf und eine Wolke von Alkalistaub durch die vergitterten Fenster wehte, ergriff Jamie das Wort. Dass er von sich aus ein Gespräch begann, kam selten vor.
    »Ich mag dieses Heulen nicht, Roland. Es hält mich bestimmt die ganze Nacht lang wach.«
    Ich selbst mochte es; Windgeräusche erinnerten mich stets an alte Zeiten und ferne Orte. Ich gebe allerdings zu, dass ich auf den Staub liebend gern verzichtet hätte.
    »Wie sollen wir dieses Ungeheuer bloß aufspüren, Jamie? Hoffentlich hast du eine Idee, ich habe nämlich keine.«
    »Wir müssen mit den Bergleuten reden. Das ist der logische Anfang. Vielleicht hat jemand einen Kerl gesehen, der blutbesudelt in ihre Unterkunft zurückgeschlichen ist. Nackt zurückgeschlichen ist. Er kann ja nicht bekleidet zurückkommen, außer er zieht seine Sachen erst aus, kurz bevor er zuschlägt.«
    Das machte mir ein wenig Hoffnung. Wenn der Fellmann wusste, was er war, konnte er sich ausziehen, sobald er einen Anfall kommen spürte, seine Kleidung verstecken und sie später wieder anziehen. Wusste er es allerdings nicht …
    Es war nur ein dünner Faden, aber wenn man vorsichtig war, damit er nicht riss, konnte man manchmal an einem dünnen Faden ziehen und ein ganzes Kleidungsstück aufdröseln.
    »Gute Nacht, Roland.«
    »Gute Nacht, Jamie.«
    Ich schloss die Augen und dachte an meine Mutter. Das tat ich in jenem Jahr oft, aber diesmal stand mir nicht vor Augen, wie sie als Tote ausgesehen hatte, sondern wie schön sie in meiner frühen Kindheit gewesen war, wenn sie in dem Zimmer mit den farbigen Glasfens tern auf meiner Bettkante gesessen und mir vorgelesen hatte. »Sieh nur, Roland«, hatte sie oft gesagt. »Hier sit zen Billy-Bumbler aufgereiht nebeneinander und schnüf feln in die Luft. Sie wissen, was kommt, nicht wahr?«
    »Ja«, hatte ich geantwortet. »Die Bumbler wissen es.«
    »Und was wissen sie?«, hatte die Frau, die ich erschießen würde, gefragt. »Was wissen sie, mein Herz?«
    »Sie wissen, dass ein Stoßwind kommt«, hatte ich gesagt. Inzwischen würden meine Augen schwer geworden sein, und kurze Zeit später würde ich zum musikalischen Klang ihrer Stimme einschlafen.
    So wie ich auch diesmal einschlief, während der Wind draußen zu Sturmstärke anwuchs.
    Im ersten Licht der Morgendämmerung weckte mich ein schrilles Klingeln: BRANG! BRANG! BRUANNNNG!
    Jamie lag noch schnarchend auf dem Rücken und hatte alle viere von sich gestreckt. Ich zog einen meiner Revolver aus dem Holster, verließ die Zelle und ging auf das aufdringliche Geräusch zu. Es kam aus dem Klingeling, auf das Sheriff Peavy so stolz war. Er selbst war nicht da, den Anruf entgegenzunehmen; er war nachts heimgegangen, und sein Dienstzimmer war leer.
    Ich stand mit bloßem Oberkörper da, hatte einen Revolver in der Hand und trug nichts als meine Unterhose, in der ich geschlafen hatte (in der Zelle war es ziemlich heiß). Ich nahm den Schalltrichter aus der Wandhalterung, hielt ihn mir ans Ohr und beugte mich über den Sprechtrichter. »Ja? Hallo?«
    »Wer ist da, verdammt noch mal?«, kreischte jemand so laut, dass mir die Ohren vor Schmerz gellten. Auch in Gilead gab es Klingelings, vermutlich etwa hundert, die noch funktionierten, aber keines mehr, das so deutlich klang. Ich fuhr zusammen und hielt den Schalltrichter vom Ohr weg, konnte die Stimme aber trotzdem noch gut hören.
    »Hallo? Hallo? Der Teufel soll dieses Scheißding holen! HALLO? «
    »Ich verstehe Euch«, sagte ich. »Sprecht um Eures Vaters willen leiser.«
    »Wer seid Ihr?« Die Stimme wurde etwas leiser, sodass ich den Schalltrichter wieder näher ans Ohr heranbringen konnte. Aber ich bedeckte es nicht mehr damit; diesen Fehler würde ich nicht ein zweites Mal machen.
    »Ein Hilfssheriff.« Das waren Jamie

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