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Wind (German Edition)

Wind (German Edition)

Titel: Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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besaßen.
    »Ich besitze nur vier Dinge, die ich dir vererben kann, aber vier sind genug«, erklärte Big Ross seinem Sohn. »Kannst du mir die aufzählen, mein Junge?«
    Tim hatte sie ihm schon viele, viele Male aufgezählt, aber er wurde dessen nie müde. »Deine Axt, deine Glücksmünze, deine Parzelle und dein Haus, das genauso gut ist wie das jedes Königs oder Revolvermanns in Mittwelt.« An dieser Stelle machte er immer eine Pause, bevor er hinzufügte: »Meine Mama. Das macht fünf.«
    Daraufhin lachte Big Ross und drückte seinem im Bett liegenden Jungen einen Kuss auf die Stirn. Dieser Katechismus wurde im Allgemeinen abends abgefragt. Hinter ihnen an der Tür wartete Nell, um Tim ebenfalls einen Kuss auf die Stirn zu drücken. »Aye«, sagte Big Ross dann. »Mama dürfen wir nicht vergessen, denn ohne sie ist alles nichts.«
    Und so schlief Tim ein – in dem Bewusstsein, dass er geliebt wurde, mit dem Wissen, dass er einen Platz auf der Welt hatte, und auf den Nachtwind horchend, dessen Odem sich über ihre Hütte legte: süß vom Duft von Blossholz, das am Rand des Endlosen Waldes wuchs, und schwach säuerlich – aber immer noch angenehm – vom Duft der Eisenholzbäume im Waldesinneren, in das sich nur tapfere Männer wagten.
    Es war eine schöne Zeit, aber wie wir wissen – aus Geschichten und aus dem Leben –, dauern schöne Zeiten nie lange an.

Eines Tages, als Tim elf war, fuhren Big Ross und sein Partner Big Kells mit ihren Wagen die Hauptstraße entlang zum Beginn des Eisenholzpfads am Waldrand, so wie sie es jeden Morgen außer am siebten taten, an dem ganz Tree Village ruhte. An jenem Tag kam jedoch nur Big Kells zurück. Sein Gesicht war rußig, sein Wams angesengt. Im linken Bein seiner Hose aus handgewebtem Stoff hatte er ein großes Loch, aus dem rotes, mit Blasen bedecktes Fleisch hervorsah. Er hockte zusammengesunken auf dem Wagensitz, als wäre er zu erschöpft, als dass er aufrecht sitzen könnte.
    Nell Ross kam an die Tür ihres Hauses und rief: »Wo ist Big Ross? Wo ist mein Mann?«
    Big Kells schüttelte langsam den Kopf, und dabei rieselte Asche aus seinem Haar auf die Schultern. Er sprach nur ein einziges Wort, das jedoch genügte, damit Tim weiche Knie bekam und seine Mutter zu kreischen begann.
    Das Wort war Drache .

Kein heute lebendes Wesen hat jemals etwas wie den Endlosen Wald gesehen, denn die Welt hat sich weiterbewegt. Er war finster und voller Gefahren. Die Holzfäller aus Tree Village kannten ihn besser als sonst jemand in Mittwelt, aber selbst sie wussten nicht, was zehn Räder jenseits der Linie, wo die Blossholzhaine endeten und die Eisenholzbäume – diese riesig hohen, dumpf brütenden Wächter – begannen, leben oder wachsen mochte. Die Waldestiefen waren eine geheimnisvolle Welt voller seltsamer Pflanzen, noch seltsamerer Tiere, stinkender Gruselsümpfe und – so hieß es – Hinterlassenschaften des Alten Volkes, die oft tödlich waren.
    Die Folken von Tree fürchteten den Endlosen Wald – und das zu Recht; Big Ross war nicht der erste Holzfäller, der dem Eisenholzpfad gefolgt und nicht zurückgekommen war –, aber sie liebten ihn auch, denn das Eisenholz nährte und kleidete ihre Familien. Sie verstanden (obwohl niemand das laut gesagt hätte), dass der Wald lebte. Und wie alle Lebewesen musste er Nahrung zu sich nehmen.
    Stellt euch vor, ihr wärt ein Vogel, der über diese riesige Wildnis hinwegflöge. Von dort oben könnte der Wald wie ein Gewand in einem so dunklen Grün aussehen, dass es fast schwarz wirkte. Am unteren Rand läge ein Saum aus hellerem Grün. Das wären die Blossholzhaine. Dicht unterhalb, am äußersten Rand der Nördlichen Baronie, lag Tree Village, die letzte Kleinstadt in einem damals noch zivilisierten Land. Tim hatte seinen Vater einmal gefragt, was zivilisiert bedeute.
    »Steuern«, hatte er gesagt und gelacht – aber nicht wie über etwas Komisches.
    Die meisten Holzfäller drangen nicht tiefer vor als bis zu den Blossholzhainen. Selbst dort konnten plötzlich Gefahren drohen. Schlangen waren am gefährlichsten, aber es gab auch Wervel: giftige Nagetiere in Hundegröße. Im Lauf der Jahre waren viele Männer in den Blossies geblieben, aber insgesamt lohnte Blossholz das Risiko. Es war ein schönes Holz mit einer feinen Maserung, goldfarben und beinahe so leicht, dass es in der Luft schwebte. Aus ihm ließen sich gute Binnenschiffe bauen, für seegängige Schiffe taugte es allerdings nicht, weil jeder mäßige Sturm ein

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