Windbruch
Arbeit
nach.
Aber dann hatte er was gesehen.
Und im Nachhinein wünschte er, er wäre an diesem Tag gar nicht erst zur Arbeit gegangen.
Wäre einfach zuhause geblieben. Dann hätte er es nicht mit ansehen müssen. Ihm
hatte der Atem gestockt und er hatte sich am Geländer festhalten müssen, so
schwindlig war ihm plötzlich gewesen. Fast hätte ihn jemand gesehen, denn er
war gegen eine alte Farbdose getreten, und die war dann hinunter gefallen, auf
die nächst tiefere Etage. Es hatte ordentlich gescheppert, aber Gott sei Dank
waren die Geräusche der See und des Windes so laut gewesen, dass das Geräusch
nicht bis dahinten zu hören gewesen war. Er hatte sich dann schnell verdrückt,
auf keinen Fall durfte jemand mitkriegen, dass er was gesehen hatte. Und er
hatte für sich beschlossen, auch diesen Vorfall zu vergessen. Aber es gelang
ihm nicht. Verdammt, es gelang ihm überhaupt nicht.
9
Der Wind war etwas aufgefrischt.
Dennoch schwappten die Wellen nur leicht plätschernd ans Ufer. Es musste gerade
Hochwasser sein, schloss Maarten aus dem Wasserstand. In den nächsten Stunden
würde die See also Stück für Stück wieder zurückweichen, bis das Wasser nur
noch weit hinten am Horizont zu sehen war. Mit fahrigen Bewegungen strich sich
Maarten immer wieder über das Gesicht. Er bekam die Bilder nicht aus dem Kopf.
Hauke, so blass und voller Angst im Krankenbett. Das Blut auf seiner Decke.
Sein schmerzverzerrtes Gesicht.
Gestern war er nach dem Besuch im
Krankenhaus zu seinen Eltern gefahren und hatte sich eigentlich gleich hinlegen
wollen, so ausgelaugt hatte er sich plötzlich gefühlt. Doch dann hatte seine
Schwester Wiebke mit ihrer Familie vor der Tür gestanden, nur wenig später dann
auch noch Swaantje und Simon. Also hatten sie alle zusammen zu Abend gegessen,
und es war noch ein richtig netter Abend geworden. Wiebke hatte einen richtig
zufriedenen und ausgeglichenen Eindruck gemacht. Ihre Kinder, Jule und Immo,
waren recht lebhaft, aber, wie Maarten fand, mit ihren glatten, strohblonden
Haaren, den großen blauen Augen und den roten Bäckchen ganz reizend. Wiebkes
langjährigen Lebensgefährten und Beinahe-Ehemann Daniel hatte Maarten schon
immer gut leiden können. Die beiden hatten sich während Wiebkes Ausbildung zur
Hotelfachfrau kennen gelernt, Daniel hatte in ihrem Ausbildungshotel als Koch
gearbeitet. Inzwischen waren sie Inhaber eines kleinen Fischrestaurants in Norddeich.
In ein paar Tagen würden Wiebke
und Daniel heiraten. Fast genau an der Stelle, wo Maarten jetzt saß. Er hatte
sich inzwischen einen Mietwagen genommen und kurzerhand beschlossen, sich für
ein paar Stunden einfach nur an den Deich bei Pilsum zu setzen. Doch er musste
feststellen, dass es hier früher deutlich ruhiger gewesen war. Denn seitdem
Otto Waalkes seinen Film am Pilsumer Leuchtturm gedreht hatte, war dieser
praktisch zum Wallfahrtsort für Touristen geworden – und der untere Teil seines
Korpus’ diente als Sammlung aller Freundlich- und Peinlichkeiten, die einem
menschlichen Hirn entspringen konnten. Bis zu dieser Zeit hatte sich kaum
jemand hierher verirrt, und man hatte Stunden am Deich sitzen können, ohne
allzu vielen Menschen zu begegnen.
Maarten hatte sich einen
Sitzplatz in angemessener Entfernung zum Leuchtturm gesucht und dort eine
Picknickdecke ausgebreitet, auf der er jetzt saß und darüber nachdachte, was er
für Hauke tun konnte. Auf jeden Fall würde er nicht wieder nach Amerika
zurückkehren, ohne zu wissen, wie es mit seinem Freund weiterging. Soviel stand
fest. Am nächsten Tag würde er Franziska anrufen und ihr sagen, dass er seinen
Aufenthalt auf unbestimmte Zeit verlängern würde. Damit musste sie jetzt klarkommen,
schließlich war sie es gewesen, die ihn quasi genötigt hatte, zur Hochzeit
seiner Schwester nach Ostfriesland zu fliegen. Das hatte sie nun davon, dachte
er mit einem Schmunzeln. Aber solange Franziska im Vorzimmer seines New Yorker
Büros saß, würde da auch ohne ihn alles rund laufen, daran hatte er keinerlei
Zweifel.
Maarten versuchte, die düsteren
Gedanken aus dem Kopf zu bekommen. Es war ein herrlicher Sommertag und er beschloss,
sich in seinen mitgebrachten Krimi zu vertiefen und diesen Sommertag genau
hier, an diesem Platz am Deich, in vollen Zügen zu genießen. Während er las,
holte er immer wieder tief Luft und erfreute sich am intensiven Geruch der
salzigen Luft, einer Mischung aus Meer, Gras und – was war das? – Schaf. Schaf?
Maarten schaute auf.
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