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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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Bereich des Schiffes gab es nur eine Erklärung: Futter. Kein Matrose durfte an seinem Arbeitsplatz Speisen irgendwelcher Art lagern – und Rose, das wusste der Segelmacher nur zu gut, hasste nichts so sehr wie Hamsterer. Eine berühmte Anekdote erzählte von einem Matrosen auf Ausguck, der drei Äpfel mit ins Krähennest genommen hatte. Rose fand es innerhalb einer Stunde heraus, zog ihm einen Wochenlohn ab und befahl der Besatzung, ihn für den Rest der Reise nur noch mit ›Schwein‹ anzureden. Er hatte an Deck einen Apfelkern gefunden.
    Der Segelmacher war überzeugt davon, dass jemand Lebensmittel in die Segellast geschmuggelt hatte, und er richtete eine geharnischte Warnung an die Teerjungen der Abendwache.
    »Damit das ein für alle Mal in eure Köpfe geht – was essbar ist, krümelt. Krümel ziehen Ratten an. Ratten bauen Nester und nagen. Wollt ihr Löcher in den Segeln, wenn ein Sturm aufkommt oder Piraten uns im Visier haben?«
    Einer von den Jungen war Jervik. Er war erbost, dass man ihn zur ›Weiberarbeit‹ eingeteilt hatte, wie er es nannte, und wütete am nächsten Morgen beim Frühstück noch mehr als sonst.
    »Was ihr vom Segeln versteht, ist keine Möwenspucke wert«, erklärte er den Jungen an seinem Tisch. »Speisen in der Segellast! Wer war das? Raus mit der Sprache, ihr hirnlosen Taugenichtse! Du da!« Er zeigte auf Reyast. »Immer der langsamste Esser! Ich möchte wetten, du hast dir die Reste in die Taschen gestopft und sie heimlich gemampft.«
    »R-R-Reste? N-n-n-n …«
    »Willst du behaupten, ich bin ein Lügner, Stotterschnecke?«
    Reyast schaute auf sein gekochtes Rindfleisch nieder. Dann nickte er entschieden.
    Verblüfft beugte Jervik sich vor und drückte Reyast das Gesicht auf den Teller. Nun war für Neeps das Maß voll. Er sprang von der Bank und schlug dreimal auf Jervik ein, bevor der wusste, wie ihm geschah. Als er sich von seinem Schreck erholt hatte, hob er Neeps mit einer Hand in die Höhe, ohrfeigte ihn rechts und links und warf ihn über den Tisch. Neeps landete auf den Füßen und wollte sich sofort wieder auf Jervik stürzen, aber die anderen hielten ihn zurück. Sie mussten ihre ganze Kraft dafür aufwenden.
    Erst Stunden später, nachdem er sich beruhigt hatte, fügte Neeps Jerviks Worte und seine eigenen Erlebnisse zu einem Bild zusammen. Ihm hatte man zu Beginn des Tages eine besonders ekelhafte Arbeit zugewiesen. Der Abfallschacht, durch den Asche, Knochen und anderer Unrat aus der Kombüse ins Meer befördert wurden, war verstopft gewesen. Da Neeps der Kleinste an Bord war, hatte ihm Mr. Teggatz befohlen, mit einem Stößel in den Schacht zu kriechen und das Hindernis zu beseitigen. Und was hatte Neeps gefunden? Ratten! Dutzende von toten Ratten! Ratten, die nicht an Krankheiten umgekommen oder in Fallen geraten waren, sondern denen man die Köpfe abgeschlagen und die Mägen aufgeschlitzt hatte. Besonders unheimlich fand er, dass sie in Segeltuch eingeschlagen waren. Als hätte sich jemand in die Kombüse geschlichen und das ganze Bündel heimlich in den Schacht geschoben.
    Ein Rattenschlachten in der Segellast: Was hatte das zu bedeuten? Hing es womöglich mit den Geheimnissen zusammen, über die Pazel nicht hatte sprechen wollen?
    Pazel!, dachte Neeps. Hättest du nicht dein greimiges Maul halten können? Was geschieht jetzt mit dir? Und was wird aus uns allen?
    Pazels Schicksal ist rasch erzählt: Man hatte ihn in die Amtsstube des Hafenmeisters gebracht und amtlicherseits aus dem Reichsjungenregister gestrichen. Das Ganze dauerte etwa drei Minuten und besiegelte das Ende seiner Laufbahn auf See. Niemand regte sich darüber auf; es reichte nicht einmal zu einem finsteren Blick. Man hatte ständig mit Teerjungen zu tun, die ihres Schiffes verwiesen wurden.
    »Nimm uns die blauen Flecken nicht übel, Kumpel«, sagten die Männer von der Chathrand, bevor sie wieder in den Regen hinauseilten. »Wir tun auch nur unsere Pflicht.«
    »Schon vergessen«, sagte Pazel.
     
    *     *     *
     
    Er blieb noch ein wenig in der warmen Amtsstube und schaute aus dem Fenster. Uturphe war die feuchteste Stadt an der Nelu Peren, sagten die Seeleute. Es regnete das ganze Jahr über, nur mitten im Winter kamen die Regengüsse als heftige Graupelschauer daher. Durch Kanäle und offene Sturmabflussrinnen, über die sich Hunderte von schmalen, mit losen Steinen bestreute Brückenstege ohne Geländer spannten, rauschte das Wasser ins Meer. Im öden Hinterland hausten

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