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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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nie eine Leichenhalle besucht, und nach zehn Minuten in dem Haus von Uturphe gelobte er sich, das auch nie wieder zu tun. Die Mauern rochen durchdringend nach Tod. Männer lagen auf Händen und Knien und schrubbten so eifrig den Boden, dass Pazel sich fragte, was für Flecken sie wohl zu beseitigen suchten. Aber der Bestatter war geradezu entzückt, ihn zu sehen. Ach ja!, rief er. Der arme Teufel von der Chathrand. War Pazel gekommen, um Abschied zu nehmen?
    »Dann ist er also tot!«, rief Pazel erschüttert.
    Der Mann blinzelte. »So bringt man sie mir. Als Tote. Ausnahmen sind selten.«
    Er führte Pazel durch die makellos saubere Eingangshalle und eine lange Wendeltreppe hinab. Es wurde kalt. Am Fuß der Treppe sperrte der Mann eine Tür auf, und sie betraten einen Raum, den man sich nicht unbedingt genauer ausmalen möchte. Lassen wir es dabei bewenden, dass die Leichenhalle für eine kleinere Stadt in friedlicheren Zeiten gebaut worden war und dass die dreißig oder vierzig darin befindlichen Personen sich mit Fug und Recht über Platzmangel hätten beklagen können, wären sie noch in der Verfassung dazu gewesen.
    »Da drüben – richtig«, sagte der Bestatter und schob sich an einen schwarzen Steintisch heran, auf dem unter einem Laken eine Gestalt lag. »Da sind wir. Soll ich Sie kurz mit Ihrem Freund allein lassen?«
    Er zog das Laken zurück, und Pazel schaute in die geöffneten Augen eines Leichnams. Der Mann hatte getrocknetes Blut im Haar, und in seinen Zügen standen Überraschung und Entsetzen. Aber er war nicht Hercól.
    »Stimmt etwas nicht?«, fragte der Leichenbestatter. »Wollen Sie sagen, Sie kennen den Mann nicht?«
    Pazel zögerte; tatsächlich kam ihm der Mann schon irgendwie bekannt vor. Aber …
    »Es ist nicht der … den ich erwartet hatte«, würgte er hervor. »Sie sagen, er kam von der Chathrand?«
    »Aber ja, heute ganz früh am Morgen.«
    »Aber er trägt keine Matrosenuniform.«
    »Das ist richtig. Soviel ich weiß, war er irgendein besonderer Kaiserlicher Soldat. Angehöriger einer Ehrengarde, wie man mir sagte. Heißt Zirfet.« Er las ab, was auf der Marke im Ohrläppchen des Toten stand. »Zirfet Salubrastin. Eingeliefert von einem Hauptmann Nagan aus Etherhorde. Komischer Kerl, dieser Nagan. Nachdem die anderen gegangen waren, zog er ein langes Messer aus dem Gürtel des Verstorbenen und hielt es ihm vor das Gesicht. ›Das habe ich dir im Turm gegeben‹, sagte er, ›aber wir wussten beide, dass es nur geliehen war, nicht wahr?‹ Das waren seine Abschiedsworte.«
    Ein Mitglied der Isiq’schen Familiengarde – tot! Pazel bekam plötzlich große Angst um Tascha. »Können Sie sich vorstellen, woran der Mann gestorben ist?«, fragte er.
    »Vorstellen?«, fragte der Leichenbeschauer. »Ich kann sogar noch mehr. Sehen Sie sich seinen Kopf an: schweres Trauma. Und hören Sie dieses Gurgeln?« Er schlug mit der Faust auf den Brustkorb der Leiche. »Er hat Wasser in den Lungen, kein Blut. Der Schlag kam von hinten, der Mann fiel ins Meer und ertrank. Ein Taljenblock, der sich von der Rah gelöst hatte und frei hin und her schwang. Passiert immer wieder. Ich wusste Bescheid, bevor Nagan noch ein Wort gesagt hatte.«
    »Aber ich habe nichts von einem solchen Unfall gehört«, sagte Pazel.
    »Natürlich nicht. Ist erst vor wenigen Stunden passiert. Soll ich Ihnen sagen, woher ich das weiß?«
    Pazel lehnte höflich ab. Der Bestatter schien enttäuscht.
    »Vorstellen!«, wiederholte er. »An dem Tag, an dem ich bei einem so einfachen Fall nur eine Vorstellung habe, gebe ich meinen Beruf auf. Nein, dem Mann fehlt sonst nichts außer einem gebrochenen Handgelenk. Und daran ist bisher noch niemand gestorben.«
     
    *     *     *
     
    Am Abend war Pazel der Verzweiflung nahe. Er hatte sich zu lange in der Leichenhalle aufgehalten und war dann wie ein Wilder zum Hafen gerannt, in der Hoffnung, jemanden, irgendjemanden von der Chathrand zu erwischen, der bereit war, eine Nachricht zu übermitteln. Tascha und ihr Vater mussten von Hercóls Verschwinden erfahren. Doch dabei hatte er die Aufmerksamkeit des Stadtgendarmen erregt, der hatte ihn eingeholt und ihn, taub für alle Proteste, bis vor die Tür eines fensterlosen Steingefängnisses geschleppt, über dessen Schwelle die Worte ›S CHULDNER UND M ITTELLOSE ‹ eingemeißelt waren.
    Dort hatte Pazel endlich eine Hand aus dem Schwitzkasten freibekommen und dem Gendarmen in blinder Panik die sechzehn Goldmuscheln aus seiner Börse

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