Winesburg, Ohio (German Edition)
Parlamentarier, verschafft.
Joe Welling ging in den Geschäften Winesburgs aus und ein – schweigsam, äußerst höflich, auf seine Arbeit konzentriert. Die Männer musterten ihn mit Blicken, in denen Belustigung lag, gedämpft von Sorge. Sie warteten auf einen seiner Ausbrüche, waren stets fluchtbereit. Obwohl die Anfälle, die ihn überkamen, recht harmlos waren, ließen sie sich doch nicht mit einem Scherz vertreiben. Sie waren überwältigend. Ritt ihn eine Idee, war Joe gebieterisch. Seine Persönlichkeit wuchs dann ins Gigantische. Sie übermannte denjenigen, mit dem er sprach, fegte ihn hinweg, fegte alle hinweg, alle, die in Hörweite seiner Stimme standen.
In Sylvester Wests Drugstore standen vier Männer, die sich über Pferderennen unterhielten. Wesley Moyers Hengst Tony Tip sollte beim Juni-Meeting in Tiffin, Ohio, starten, und es ging das Gerücht, er werde dort
auf die schärfste Konkurrenz seiner Karriere treffen. Es hieß, dass Pop Geers, der große Jockey, 9 persönlich anwesend sein werde. Zweifel an Tony Tips Erfolg hingen bleiern in der Luft von Winesburg.
In diesen Drugstore trat Joe Welling, stieß brüsk die Fliegentür auf. Ein seltsam gedämpftes Lodern in den Augen, stürzte er sich auf Ed Thomas, denjenigen, der Pop Geers kannte und dessen Urteil über Tony Tips Chancen es zu bedenken galt.
«Im Wine Creek steht das Wasser hoch», rief Joe Welling, und sein Auftritt glich dem des Pheidippides, als er die Nachricht vom Sieg der Griechen in der Schlacht von Marathon überbrachte. 10 Sein Finger trommelte auf eine Tätowierung auf Ed Thomas’ breiter Brust. «An der Trunion-Brücke steht es nur noch elfeinhalb Zoll unterhalb der Bohlen», fuhr er fort, und die Wörter kamen flink und von einem kleinen Pfeifen begleitet zwischen seinen Zähnen hervor. Über die Gesichter der vier kroch ein Ausdruck hilfloser Verärgerung.
«Meine Fakten sind korrekt. Verlasst euch darauf. Ich war bei Sinnings’ Eisenwarenladen und habe mir ein Lineal besorgt. Dann bin ich hin und habe gemessen. Ich habe fast meinen Augen nicht getraut. Es hat doch zehn Tage nicht geregnet. Erst wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Mir rasten Gedanken durch den Kopf. Ich dachte an unterirdische Durchlässe und Quellen. Im Geiste war ich unter der Erde und habe umhergeschaut. Ich habe auf der Brücke gesessen und mir den Kopf gerieben. Am Himmel war keine Wolke, keine einzige. Kommt auf die Straße, dann seht
ihr’s. Es war keine Wolke da. Es ist keine Wolke da. Doch, eine Wolke war da. Ich will keine Fakten unterschlagen. Im Westen, ganz dicht am Horizont, war eine Wolke, eine Wolke, nicht größer als eine Männerhand.
Nicht, dass ich denke, sie hat etwas damit zu tun. Da ist sie, seht ihr. Jetzt versteht ihr, wie verwirrt ich war.
Dann kam mir eine Idee. Ich lachte. Auch ihr werdet lachen. Natürlich hat es in Medina County geregnet. Das ist doch interessant, wie? Hätten wir keine Züge, keine Post, keine Telegraphen, wüssten wir nicht, dass es in Medina County geregnet hat. Und da kommt ja der Wine Creek her. Das weiß jeder. Der kleine alte Wine Creek hat uns die Nachricht überbracht. Das ist interessant. Ich lachte. Ich dachte, ich erzähle es euch – interessant, wie?»
Joe Welling wandte sich ab und ging zur Tür hinaus. Er zog ein Buch aus der Tasche, blieb stehen und fuhr mit dem Finger über eine Seite. Er war nun wieder ganz in seine Pflichten als Vertreter der «Standard Oil Company» vertieft. «Bei Herns Lebensmittelladen wird wohl das Petroleum knapp werden. Ich gehe mal hin», murmelte er, hastete die Straße entlang und verbeugte sich höflich grüßend nach rechts und links vor den Leuten, die ihm entgegenkamen.
Als George Willard für den «Winesburg Eagle» zu arbeiten begann, wurde er von Joe Welling bedrängt. Joe beneidete den Jungen. Ihm schien, als habe die Natur bestimmt, dass er Zeitungsreporter werde. «Das sollte eigentlich ich machen, gar kein Zweifel», erklärte er, nachdem er George Willard auf dem Gehsteig vor Daughertys Futterhandlung abgefangen hatte. Seine
Augen leuchteten, und sein Zeigefinger zitterte. «Natürlich verdiene ich bei der ‹Standard Oil Company› mehr Geld, und ich sage es Ihnen ja auch nur», setzte er hinzu. «Ich habe nichts gegen Sie, aber eigentlich sollte ich Ihren Posten haben. Ich könnte die Arbeit in meinen freien Stunden erledigen. Hierhin und dorthin würde ich laufen und Dinge herausfinden, die Ihnen niemals auffallen
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