Winesburg, Ohio (German Edition)
zu.
Entsetzen packte die Seele des Jungen. Es graute ihm davor. Einen Moment lang saß er vollkommen ruhig da, dann spannte sich sein Körper, und er sprang auf. Sein Gesicht wurde so weiß wie das Fell des Lamms, das, indem es sich unversehens befreit fand, den Hang hinabrannte. Auch David rannte. Die Furcht ließ seine Füße fliegen. Wie ein Rasender setzte er über die niedrigen Büsche und Stämme. Beim Rennen steckte er die Hand in die Tasche und zog den gegabelten Stock heraus, an dem die Schlinge fürs Eichhörnchenschießen
hing. Als er an den Bach kam, der flach war und über die Steine dahinspritzte, sauste er ins Wasser und schaute sich um, und als er sah, dass sein Großvater noch immer hinter ihm her rannte, das lange Messer fest in der Hand, zögerte er nicht, sondern bückte sich, wählte einen Stein und legte ihn in die Schlinge. Mit aller Kraft zog er die schweren Gummibänder zurück, dann pfiff der Stein durch die Luft. Er traf Jesse, der den Jungen ganz vergessen hatte und nur das Lamm verfolgte, voll am Kopf. Aufstöhnend kippte er vornüber und schlug direkt vor den Füßen des Jungen hin. Als David sah, wie er reglos dalag, anscheinend tot, steigerte sich seine Furcht ins Unermessliche. Sie wurde zu rasender Panik.
Mit einem Schrei wandte er sich um und rannte, krampfartig weinend, durch den Wald. «Es ist mir gleich – ich habe ihn getötet, aber es ist mir gleich», schluchzte er. Wie er so immer weiter rannte, beschloss er plötzlich, nie wieder auf die Bentley-Farmen oder in die Stadt Winesburg zurückzukehren. «Ich habe den Mann Gottes getötet, und nun werde ich selbst ein Mann sein und in die Welt hinausziehen», sagte er entschieden, und dann hörte er auf zu rennen und schritt schnell eine Straße entlang, die den Windungen des Wine Creek auf dessen Weg durch die Felder und Wälder nach Westen folgte.
Auf der Erde beim Bach wälzte sich Jesse Bentley unruhig. Er stöhnte und schlug die Augen auf. Lange lag er vollkommen still da und sah zum Himmel hinauf. Als er endlich auf die Beine kam, war er durcheinander, und dass der Junge verschwunden war, überraschte
ihn nicht. Er setzte sich auf einen Baumstamm an der Straße und begann, von Gott zu reden. Mehr bekamen sie nie mehr aus ihm heraus. Bei jeder Erwähnung von Davids Namen blickte er vage zum Himmel und sagte, ein Bote Gottes habe den Jungen mitgenommen. «Es ist geschehen, weil ich zu ruhmsüchtig war», erklärte er und wollte sonst nichts mehr zu der Sache sagen.
EIN MANN MIT IDEEN
Er wohnte bei seiner Mutter, einer grauen, schweigsamen Frau mit einer eigenartig aschfahlen Gesichtsfarbe. Das Haus, in dem sie lebten, stand in einem kleinen Hain jenseits der Stelle, wo die Hauptstraße von Winesburg den Wine Creek überquerte. Er hieß Joe Welling, und sein Vater hatte als Anwalt und Mitglied des Staatsparlaments in Columbus in der Gemeinde einiges Ansehen genossen. Joe selbst war von kleinem Wuchs und dem Wesen nach anders als jeder in der Stadt. Er war wie ein winziger Vulkan, der tagelang stumm bleibt und dann auf einmal Feuer speit. Nein, so war er nicht – er war einer, der zu Ausbrüchen neigt, einer, der sich unter seinen Mitmenschen bewegt und ihnen Angst einflößt, weil ihn jederzeit ein Ausbruch ereilen und in einen merkwürdigen, unheimlichen körperlichen Zustand versetzen kann, in dem sich seine Augen verdrehen und Arme und Beine zappeln. So war er, nur dass die Heimsuchung, die Joe Welling überfiel, nichts Körperliches, sondern etwas Seelisches war. Er war von Ideen besessen, und in den Fängen einer seiner Ideen war er unkontrollierbar. Dann kollerten und purzelten ihm Wörter aus dem Mund. Ein eigentümliches Lächeln trat auf seine Lippen. Die Ränder seiner goldbesetzten Zähne blitzten im Licht. Er stürzte sich
auf einen Passanten und redete los. Für den Passanten gab es kein Entrinnen. Der erregte Mann atmete ihm ins Gesicht, spähte ihm in die Augen, hämmerte ihm mit zitterndem Zeigefinger auf die Brust, verlangte, erzwang Aufmerksamkeit.
In jenen Tagen lieferte die «Standard Oil Company» ihr Öl noch nicht in großen Wagen und Motorlastwagen wie heute, sondern belieferte damit vielmehr Einzelhändler, Eisenwarenhandlungen und dergleichen. Joe war der Vertreter von «Standard Oil» für Winesburg und für mehrere Städte entlang der Eisenbahn, die durch Winesburg fuhr. Er kassierte Rechnungen, nahm Bestellungen auf und machte noch andere Dinge mehr. Diesen Posten hatte ihm sein Vater, der
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