Winesburg, Ohio (German Edition)
weit wichtiger, als sie tatsächlich ist.
Und so saßen diese Leute zusammen, rauchten Zigaretten und redeten, und Enoch Robinson, der Junge von der Farm bei Winesburg, war auch dabei. Er hielt sich in einer Ecke und sagte meistens nichts. Wie seine großen blauen Kinderaugen umherblickten! An den Wänden hingen Bilder, die er gemalt hatte, krude Sachen, halb fertig. Über sie redeten seine Freunde. Auf ihren Stühlen zurückgelehnt, redeten und redeten sie, und ihre Köpfe wiegten hin und her. Worte wurden gewechselt, über Linienführung, Bedeutung und Komposition, viele Worte, wie sie immerzu gewechselt werden.
Enoch wollte auch reden, aber er wusste nicht, wie. Er war zu erregt, um zusammenhängend zu reden. Versuchte er es, dann stammelte und stotterte er, und seine Stimme klang ihm seltsam und piepsig. Und so redete
er gar nicht mehr. Er wusste, was er sagen wollte, aber ebenso wusste er, dass er es unter keinen Umständen sagen konnte. Wurde ein Bild, das er gemalt hatte, erörtert, wollte er beispielsweise herausplatzen mit: «Ihr versteht es nicht», er wollte erklären: «Das Bild, das ihr seht, besteht nicht aus den Dingen, die ihr seht und über die ihr Worte äußert. Es steckt etwas anderes darin, etwas, was ihr gar nicht seht, etwas, was ihr auch gar nicht sehen sollt. Seht euch das da drüben an, da neben der Tür, wo das Licht vom Fenster hin fällt. Der dunkle Fleck an der Straße, den ihr vielleicht gar nicht bemerkt, der ist nämlich der Anfang von allem. Da steht ein Holunderbusch, wie er einmal an der Straße vor unserem Haus in Winesburg, Ohio, wuchs, und in diesem Holunder ist etwas verborgen. Und zwar eine Frau. Sie wurde von einem Pferd abgeworfen, und das Pferd ist aus dem Blick gelaufen. Seht ihr denn nicht, wie der alte Mann, der den Wagen fährt, sich besorgt umschaut? Das ist Thad Grayback, der ein Stück weiter an der Straße eine Farm hat. Er bringt Mais nach Winesburg, wo er in Comstocks Mühle zu Mehl gemahlen werden soll. Er weiß, da in dem Holunder ist etwas, etwas Verborgenes, aber genau weiß er es nicht.
Es ist nämlich eine Frau, das ist es! Es ist eine Frau, und wie ist sie nur schön! Sie ist verletzt und leidet, aber sie gibt keinen Laut von sich. Seht ihr das denn nicht? Sie liegt ganz still da, weiß und still, und Schönheit entströmt ihr und legt sich über alles. Sie ist am Himmel dort und überhaupt überall. Natürlich habe ich nicht versucht, die Frau zu malen. Sie ist zu schön, um gemalt werden zu können. Wie langweilig, von Komposition
und derlei Dingen zu reden! Warum schaut ihr nicht auf den Himmel und lauft dann weg wie ich, als ich noch ein Junge in Winesburg, Ohio, war?» Derlei Dinge wollte der junge Enoch Robinson den Gästen, die auf sein Zimmer kamen, als er ein junger Bursche in New York war, unbedingt sagen, doch am Ende sagte er immer nichts. Dann begann er, an seinem Verstand zu zweifeln. Er fürchtete, das, was er fühlte, drücke sich in den Bildern, die er malte, nicht aus. Etwas ungehalten hörte er auf, Leute zu sich einzuladen, und schließlich machte er es sich zu Gewohnheit, die Tür zu verriegeln. Er dachte, dass ihn nun genug Leute besucht hätten und dass er keine Leute mehr brauchte. Mit lebhafter Phantasie erfand er sich seine eigenen Leute, mit denen er wirklich reden und die Dinge erklären konnte, die er lebenden Menschen nicht hatte erklären können. Sein Zimmer wurde zunehmend von den Geistern von Männern und Frauen bewohnt, zwischen denen er umherging und wechselweise Worte sagte. Es war, als hätte jeder, den Enoch Robinson je gesehen hatte, eine Essenz seiner selbst bei ihm zurückgelassen, etwas, was er nach Belieben formen und ändern konnte, etwas, was über die Dinge auf den Bildern wie die verletzte Frau hinter dem Holunder Bescheid wusste.
Der sanfte, blauäugige kleine Junge aus Ohio war ein vollkommener Egoist, so wie alle Kinder Egoisten sind. Dass er keine Freunde haben wollte, hatte den sehr einfachen Grund, dass kein Kind Freunde haben will. Am liebsten wollte er Leute nach seiner eigenen Fasson um sich haben, Leute, mit denen er richtig reden
konnte, Leute, denen er stundenlang Predigten halten, die er endlos schelten konnte, also Diener seiner Phantasie. Umgeben von solchen Leuten war er immer selbstbewusst und kühn. Gewiss, sie mochten reden und auch eigene Ansichten haben, aber immer redete er als Letzter und Bester. Er war wie ein Schriftsteller, der sich unter den Figuren in seinem Gehirn tummelt,
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