Winesburg, Ohio (German Edition)
es ja kommen. Er war einfach zu glücklich. Etwas musste in seine Welt treten. Etwas musste ihn aus dem New Yorker Zimmer holen, damit er sein Leben als verborgene, versponnene kleine Figur leben konnte, die auf den Straßen einer Stadt in Ohio am Abend, da die Sonne hinterm Dach von Wesley Moyers Mietstall unterging, auf und ab hüpfte.
Zu dem, was geschah. Enoch erzählte George eines Nachts davon. Er wollte mit jemandem reden, und er wählte dazu den jungen Reporter, weil die beiden in einem Moment zusammengeführt wurden, als der jüngere Mann in verständnisinniger Stimmung war.
Der Kummer eines Jünglings, der Kummer eines jungen Mannes, der Kummer eines Heranwachsenden in einer Kleinstadt am Jahresende, das brachte den alten Mann zum Reden. Der Kummer saß in George Willards Herz und war bedeutungslos, aber er sprach zu Enoch Robinson.
Es regnete an dem Abend, als die zwei sich begegneten und redeten, ein nieseliger, nasser Oktoberregen. Das Jahr erfüllte sich, und die Nacht hätte schön sein sollen, am Himmel der Mond und in der Luft die frische, beißende Verheißung von Frost, doch so war es nicht. Es regnete, und unter den Straßenlaternen auf der Main Street schimmerten kleine Pfützen. In den Wäldern im Dunkel hinter dem Festplatz tropfte Wasser von den schwarzen Bäumen. Unter den Bäumen klebten Blätter an Baumwurzeln, die aus der Erde ragten. In Gärten hinter Winesburger Häusern lagen
auf der Erde hingebreitet trockene, verschrumpelte Kartoffelranken. Männer, die das Abendessen beendet und eigentlich vorgehabt hatten, in die Stadt zu gehen und mit anderen Männern an der Rückseite eines Geschäfts den Abend zu verplaudern, überlegten es sich anders. George Willard stapfte im Regen umher und war froh, dass es regnete. Ihm war danach. Er war wie Enoch Robinson, wenn der alte Mann abends aus seinem Zimmer kam und allein durch die Straßen streifte. So war er, nur dass George Willard inzwischen ein großer junger Mann war und es für unmännlich hielt, zu weinen und viel Aufhebens zu machen. Einen Monat lang war seine Mutter sehr krank gewesen, und das hatte etwas zu seinem Kummer beigetragen, aber nicht viel. Er dachte über sich nach, und jungen Leuten bringt das immer Kummer.
Enoch Robinson und George Willard trafen sich unter einem hölzernen Vordach, das vor Voights Wagengeschäft in der Maumee Street nahe der Main Street über den ganzen Gehsteig reichte. Gemeinsam gingen sie von dort durch die vom Regen ausgespülten Straßen zum Zimmer des Älteren im dritten Stock des Heffner-Blocks. Der junge Reporter ging bereitwillig mit. Enoch Robinson hatte ihn gebeten mitzukommen, nachdem die beiden zehn Minuten geredet hatten. Der Junge fürchtete sich ein wenig, war aber in seinem ganzen Leben nicht so neugierig gewesen. Hundertmal hatte er Leute sagen hören, der alte Mann sei ein wenig wirr im Kopf, und er fand sich ziemlich mutig und männlich, dass er überhaupt mitging. Von Anfang an, schon auf der Straße im Regen, redete der alte Mann
wunderlich, während er versuchte, die Geschichte vom Zimmer am Washington Square und seinem Leben in dem Zimmer zu erzählen. «Du wirst es verstehen, wenn du dich nur genügend bemühst», sagte er abschließend.«Ich habe dich angeschaut, als du auf der Straße an mir vorbeigegangen bist, und ich glaube, du kannst es verstehen. Es ist nicht schwer. Du musst nur glauben, was ich sage, nur zuhören und glauben, mehr braucht es nicht.»
Es war nach elf Uhr an jenem Abend, als der alte Enoch im Gespräch mit George Willard in dem Zimmer im Heffner-Block zum Kern der Sache kam, der Geschichte von der Frau und weswegen er die Stadt verlassen habe, um danach allein und niedergeschlagen in Winesburg zu leben. Er saß auf einem Feldbett am Fenster, den Kopf in der Hand, George Willard saß auf einem Stuhl am Tisch. Auf dem Tisch stand eine Kerosinlampe, und das Zimmer war, wenngleich nahezu unmöbliert, peinlich sauber. Während der Mann redete, kam George Willard in den Sinn, dass er gern den Stuhl verlassen und ebenfalls auf dem Feldbett sitzen wollte. Er wollte den Arm um den kleinen alten Mann legen. In dem Halbdunkel redete der Mann, und der Junge, von Trauer erfüllt, hörte zu.
«Sie ist dann da hereingekommen, nachdem jahrelang kein Mensch in dem Zimmer gewesen war», sagte Enoch Robinson. «Sie hat mich im Flur des Hauses gesehen, und dann haben wir uns kennengelernt. Was sie in ihrem Zimmer gemacht hat, weiß ich aber nicht. Ich war da nie drin.
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