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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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eine Art winziger blauäugiger König in einem Sechs-Dollar-Zimmer mit Blick auf den Washington Square in New York.
    Dann heiratete Enoch Robinson. Er wurde zunehmend einsam und wollte richtige Menschen aus Fleisch und Blut mit den Händen berühren. Tage vergingen, da schien sein Zimmer leer. Die Lust überfiel seinen Körper, und in seinen Gedanken wuchs das Begehren. Nachts brannte ein seltsames Fieber in ihm und hielt ihn wach. Er heiratete ein Mädchen, das in der Kunstakademie auf dem Stuhl neben ihm saß, und er zog in ein Wohnhaus in Brooklyn. Zwei Kinder wurden der Frau geboren, die er geheiratet hatte, und Enoch bekam Arbeit in einer Firma, wo Illustrationen für Anzeigen gestaltet wurden.
    Damit begann eine weitere Phase in Enochs Leben. Er begann, ein neues Spiel zu spielen. Eine Weile war er sehr stolz auf sich in der Rolle des schaffenden Weltbürgers. Er verabschiedete sich von der Essenz der Dinge und spielte mit Realitäten. Im Herbst ging er wählen, und jeden Morgen warf man ihm eine Zeitung auf die Haustreppe. Wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, stieg er aus einer Straßenbahn und ging gemessenen Schritts hinter einem Geschäftsmann
her in dem Bemühen, sehr bedeutend und wichtig zu erscheinen. Als Steuerzahler hielt er es für ratsam, sich damit vertraut zu machen, wie die Dinge liefen. «Ich erlange doch eine gewisse Bedeutung, werde ein wahrhafter Teil des Ganzen, des Staates, der Stadt und so weiter», sagte er sich mit einem lustigen kleinen Anflug von Erhabenheit im Gesicht. Einmal, auf der Heimfahrt von Philadelphia, führte er im Zug mit einem Mann eine Diskussion. Enoch redete darüber, wie zweckmäßig es doch wäre, wenn die Regierung die Eisenbahnen besäße und betriebe, worauf der Mann ihm eine Zigarre schenkte. Es war Enochs Ansicht, dass ein solcher Schritt seitens der Regierung gut wäre, und beim Reden wurde er ganz aufgeregt. Später erinnerte er sich seiner Worte mit Freude. «Diesem Kerl habe ich aber die Meinung gesagt», murmelte er, als er die Stufen zu seiner Brooklyner Wohnung hinaufstieg.
    Natürlich glückte auch Enochs Ehe nicht. Er selbst beendete sie. Er hatte zunehmend das Gefühl, in der Wohnung zu ersticken, in ihr eingemauert zu sein, und entwickelte gegenüber seiner Frau und sogar seinen Kindern dieselben Gefühle, die er einst den Freunden gegenüber gehabt hatte, die ihn besuchten. Er begann, Geschäftstermine vorzuschützen, was ihm die Freiheit gab, nachts allein durch die Straßen zu gehen, und als sich die Gelegenheit bot, mietete er heimlich wieder das Zimmer mit Blick auf den Washington Square. Dann starb Mrs Al Robinson auf der Farm bei Winesburg, und er bekam von der Bank, die ihren Nachlass regelte, achttausend Dollar. Das führte Enoch vollends aus der Welt der Männer heraus. Er gab das Geld
seiner Frau und sagte ihr, er könne nicht mehr in der Wohnung leben. Sie weinte, war wütend und drohte, er aber starrte sie nur an und ging seiner Wege. In Wahrheit kümmerte es die Frau wenig. Sie hielt Enoch für leicht verrückt und fürchtete sich ein bisschen vor ihm. Als ganz sicher war, dass er nicht mehr zurückkehren würde, zog sie mit den beiden Kindern in die Stadt in Connecticut, in dem sie als Mädchen gelebt hatte. Am Ende heiratete sie einen Mann, der Immobilien kaufte und verkaufte und hinreichend zufrieden war.
    Und so lebte Enoch Robinson in dem New Yorker Zimmer inmitten der Leute aus seiner Phantasie, spielte mit ihnen, redete mit ihnen, glücklich wie nur ein Kind es sein kann. Enochs Leute, das war ein seltsames Volk. Sie waren vermutlich aus echten Leuten entstanden, die er erlebt hatte und die aus verborgenen Gründen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Da war eine Frau mit einem Schwert in der Hand, ein alter Mann mit einem langen weißen Bart, der immer von einem Hund gefolgt umherging, ein junges Mädchen, dem stets die Strümpfe herunterrutschten und über die Schuhspitzen hingen. Es dürfte zwei Dutzend dieser Schattenleute gegeben haben, erdacht vom Kindgeist Enoch Robinsons, der in dem Zimmer bei ihm wohnte.
    Und Enoch war glücklich. Er ging in sein Zimmer und verschloss die Tür. Auf absurde Weise von sich selbst eingenommen, redete er laut, erteilte Befehle, gab Kommentare zum Leben ab. Er war glücklich und zufrieden mit seinem Leben in der Werbefirma, bis etwas geschah. Natürlich geschah etwas. Deshalb ging
er ja zurück nach Winesburg, und deshalb wissen wir auch von ihm. Was geschah, war eine Frau. So musste

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