Winesburg, Ohio (German Edition)
entkleidete er sich in der Kälte. Als er ins Bett stieg, waren die Laken wie eine Decke trockenen Schnees.
George Willard wälzte sich in dem Bett, auf dem er am Nachmittag das Kissen umschlungen und dabei an Kate Swift gedacht hatte. In seinen Ohren hallten die Worte des Pfarrers, der, wie er meinte, plötzlich irrsinnig geworden war. Er stierte im Zimmer umher. Der Groll, für einen verblüfften Mann normal, verflog, und er versuchte zu verstehen, was passiert war. Er konnte es nicht begreifen. Immer wieder wälzte er die Sache im Kopf herum. Die Stunden vergingen, und er glaubte bald, es müsse schon Zeit für einen neuen Tag sein. Um vier Uhr zog er sich die Decke bis zum Hals und versuchte zu schlafen. Als er schläfrig wurde und die Augen schloss, hob er eine Hand und tastete damit im Dunkeln herum. «Mir ist etwas entgangen. Mir ist etwas entgangen, was Kate Swift mir sagen wollte», murmelte er schläfrig. Dann schlief er, und in ganz Winesburg war er in jener Winternacht die letzte Seele, die in Schlaf fiel.
EINSAMKEIT
Er war der Sohn von Mrs Al Robinson, die einst eine Farm an einer Seitenstraße des Trunion Pike, östlich von Winesburg, zwei Meilen hinter der Stadtgrenze, besessen hatte. Das Farmhaus war braun gestrichen, und die Jalousien an allen Fenstern zur Straße hin blieben stets geschlossen. Auf dem Weg vor dem Haus lag im tiefen Staub eine Schar Hühner, darunter zwei Perlhühner. Enoch lebte zu jener Zeit mit seiner Mutter in dem Haus und ging als kleiner Junge auf die Winesburger Highschool. Alteingesessene erinnerten sich seiner als ruhigen, lächelnden Jugendlichen, der am liebsten schwieg. Wenn er in die Stadt kam, ging er mitten auf der Straße und las dabei manchmal ein Buch. Fahrer von Fuhrwerken mussten schreien und fluchen, um ihm bewusst zu machen, wo er war, damit er aus der Fahrspur trat und sie vorbeiließ.
Als Enoch einundzwanzig Jahre war, ging er nach New York und lebte fünfzehn Jahre lang als Stadtmensch. Er studierte Französisch und besuchte eine Kunstakademie in der Hoffnung, sein Talent fürs Zeichnen weiterzuentwickeln. Insgeheim plante er, nach Paris zu gehen und seine künstlerische Ausbildung bei den dortigen Meistern zu beenden, doch das sollte nie glücken.
Enoch Robinson glückte nie etwas. Er konnte recht ordentlich zeichnen, und in seinem Gehirn verbargen sich viele seltsame Gedanken, die durch den Malerpinsel womöglich zum Ausdruck hätten kommen können, doch er blieb immer Kind, was für seine weltliche Entwicklung von Nachteil war. Er wurde nie erwachsen, und so verstand er natürlich die Menschen nicht und konnte sich ihnen auch nicht verständlich machen. Das Kind in ihm stolperte ständig über Dinge, über Tatsachen wie Geld, Sex und Meinungen. Einmal wurde er von einer Straßenbahn angefahren und gegen einen Laternenpfahl geschleudert. Ab da hinkte er. Es war eines der vielen Dinge, die verhinderten, dass Enoch Robinson einmal etwas glückte.
In New York umgab sich Enoch anfangs, als er von den Gegebenheiten des Lebens noch nicht verstört war, viel mit jungen Männern. Er schloss sich einer Gruppe anderer junger Künstler an, Männern wie Frauen, und abends kamen sie ihn manchmal auf seinem Zimmer besuchen. Einmal war er betrunken und wurde auf eine Wache gebracht, wo ein Polizeirichter ihm schreckliche Angst einjagte, und einmal versuchte er sich an einer Affäre mit einer Dirne, die er auf dem Gehsteig vor seiner Pension antraf. Die Frau und Enoch gingen zusammen drei Blocks weit, dann bekam der junge Mann Angst und lief davon. Die Frau hatte getrunken, und der Vorfall belustigte sie. Sie lehnte sich gegen eine Hauswand und lachte so herzhaft, dass ein anderer Mann stehen blieb und mit ihr lachte. Lachend gingen die beiden zusammen weg, und Enoch verkroch sich zitternd und verärgert in seinem Zimmer.
Das Zimmer, in dem der junge Robinson in New York lebte, ging auf den Washington Square und war lang und schmal wie ein Flur. Es ist wichtig, dass Sie sich das merken. Die Geschichte von Enoch ist nämlich fast mehr noch die eines Zimmers als die eines Mannes.
Und so kamen also am Abend die Freunde des jungen Enoch in das Zimmer. An ihnen war nichts sonderlich Bemerkenswertes, nur dass sie eben die Art von Künstler waren, die gern redete. Jeder kennt diese redefreudigen Künstler. Seit Anbeginn der Welt sitzen sie in Zimmern zusammen und reden. Sie reden über Kunst und tun dies mit leidenschaftlichem, fast fiebrigem Ernst. Sie halten sie für
Weitere Kostenlose Bücher