Winesburg, Ohio (German Edition)
kehrte sie wieder.
Kate Swifts Wesen hatte etwas Schneidendes und Abstoßendes. Das spürte jeder. Im Schulzimmer war sie stumm, kalt und streng und ihren Schülern dennoch auf eigentümliche Weise sehr nah. Ganz selten einmal schien etwas sie zu überkommen, dann war sie glücklich. Alle Kinder in der Schule spürten die Wirkung ihres Glücks. Eine Weile arbeiteten sie dann nicht, sondern lehnten sich auf ihren Stühlen zurück und schauten sie an.
Die Hände hinterm Rücken verschränkt, schritt die Lehrerin im Schulzimmer auf und ab und redete sehr schnell. Es war offenbar gleichgültig, welches Thema ihr in den Sinn kam. Einmal erzählte sie den Kindern von Charles Lamb 13 und erfand seltsame, vertrauliche Geschichten über das Leben des toten Schriftstellers. Die Geschichten klangen wie von einem, der mit Charles Lamb unter einem Dach gelebt hatte und der alle Geheimnisse seines Privatlebens kannte. Die Kinder waren ein wenig verwirrt, sie dachten, Charles Lamb sei jemand gewesen, der einmal in Winesburg gelebt hatte.
Ein andermal erzählte die Lehrerin den Kindern von Benvenuto Cellini 14 . Diesmal lachten sie. Was für einen prahlenden, polternden, tapferen, liebenswerten Burschen sie aus dem alten Künstler machte! Auch über ihn erfand sie Anekdoten. Eine davon handelte von einem deutschen Musiklehrer, der ein Zimmer über Cellinis Logis in der Stadt Mailand hatte, worüber die Jungen schallend lachten. Sugars McNutts, ein dicker Junge mit roten Wangen, lachte so sehr, dass ihm schwindelig wurde und er vom Stuhl fiel; Kate Swift lachte mit ihm. Dann wurde sie auf einmal wieder kalt und streng.
In jener Winternacht, als sie durch die verlassenen, schneebedeckten Straßen ging, war das Leben der Lehrerin in eine Krise geraten. Auch wenn niemand in Winesburg es vermutet hätte, war ihr Leben bislang sehr abenteuerlich verlaufen. Das war es noch immer. Tag um Tag, während sie im Schulzimmer arbeitete oder durch die Straßen ging, rangen Kummer, Hoffnung und Begehren in ihr. Verborgen hinter einem kalten Äußeren spielten sich in ihrem Geist die außerordentlichsten Dinge ab. Die Leute in der Stadt hielten sie für eine eingefleischte alte Jungfer, und da sie einen scharfen Ton hatte und ihrer eigenen Wege ging, glaubten sie, ihr fehlten jene menschlichen Gefühle, die so viel dazu beitrugen, ihrer aller Leben gelingen oder misslingen zu lassen. Tatsächlich aber war sie die bei Weitem leidenschaftlichste Seele unter ihnen, und mehr als einmal hatte sie sich in den fünf Jahren, seit sie von ihren Reisen zurückgekehrt war und sich in Winesburg als Lehrerin niedergelassen hatte, gezwungen
gesehen, das Haus zu verlassen und die halbe Nacht herumzulaufen, um einen Kampf auszufechten, der in ihr tobte. Einmal war sie in einer regnerischen Nacht sechs Stunden im Freien geblieben und hatte, als sie heimkehrte, einen Streit mit Tante Elizabeth Swift. «Ich bin nur froh, dass du kein Mann bist», sagte die Mutter in scharfem Ton. «Mehr als einmal habe ich darauf gewartet, dass dein Vater nach Hause kommt, und nicht gewusst, in welches Schlamassel er nun wieder geraten ist. Ich habe genug Unsicherheit erlebt, und du wirst es mir nicht verdenken, wenn ich seine schlimmste Seite nicht in dir wiederholt sehen will.»
Kate Swifts Gemüt war von Gedanken an George Willard entflammt. In etwas, was er als Schuljunge geschrieben hatte, glaubte sie den Funken des Genies erkannt zu haben, und diesen Funken wollte sie anfachen. Im Sommer war sie einmal in die Redaktion des «Eagle» gegangen und hatte den Jungen, der gerade nichts zu tun hatte, zum Festplatz mitgenommen, wo die beiden sich auf eine Grasböschung setzten und redeten. Die Lehrerin versuchte, dem Jungen die Schwierigkeiten, denen dieser sich als Schriftsteller gegenüber sähe, begreiflich zu machen. «Du wirst das Leben kennenlernen müssen», verkündete sie, und ihre Stimme zitterte vor Ernsthaftigkeit. Sie fasste George Willard an den Schultern und drehte ihn zu sich, sodass sie ihm in die Augen schauen konnte. Ein Vorbeigehender hätte meinen können, sie stünden im Begriff, sich zu umarmen. «Wenn du Schriftsteller werden willst, musst du aufhören, mit Wörtern herumzuspielen»,
erklärte sie. «Es wäre wohl besser, den Gedanken ans Schreiben so lange aufzugeben, bis du besser vorbereitet bist. Jetzt ist die Zeit zu leben. Ich will dich nicht ängstigen, aber ich möchte, dass du die Tragweite dessen begreifst, was du in Angriff nehmen willst.
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