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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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Ich glaube, sie war Musikerin und hat Geige gespielt. Immer mal wieder ist sie gekommen
und hat an die Tür geklopft, und ich habe aufgemacht. Sie ist hereingekommen und hat sich neben mich gesetzt, hat sich einfach hingesetzt und sich umgeschaut und nichts gesagt. Jedenfalls nichts von Bedeutung.»
    Der alte Mann erhob sich von dem Feldbett und ging im Zimmer umher. Der Mantel, den er trug, war vom Regen nass, und Wassertropfen fielen beständig leise trommelnd auf den Fußboden. Als er sich wieder aufs Feldbett setzte, stand George Willard von seinem Stuhl auf und setzte sich neben ihn.
    «Ich hatte bei ihr so ein Gefühl. Sie hat da in dem Zimmer neben mir gesessen, und sie war für das Zimmer zu groß. Ich hatte das Gefühl, dass sie alles andere vertrieb. Wir haben einfach nur über Kleinigkeiten geredet, aber ich konnte nicht still sitzen. Ich wollte sie mit den Fingern berühren und sie küssen. Ihre Hände waren so kräftig und ihr Gesicht war so lieb, und sie hat mich die ganze Zeit angesehen. »
    Die zitternde Stimme des alten Mannes verstummte, und sein Körper bebte, als fröstelte er. «Ich hatte Angst», flüsterte er. «Ich hatte schreckliche Angst. Ich wollte sie nicht hereinlassen, als sie an die Tür klopfte, aber ich konnte nicht still sitzen. ‹Nein, nein›, sagte ich mir, aber trotzdem bin ich aufgestanden und habe ihr die Tür geöffnet. Sie war doch so erwachsen. Sie war eine Frau. Ich dachte, sie würde in dem Zimmer größer sein als ich.»
    Enoch Robinson starrte George Willard an, seine kindlichen blauen Augen leuchteten im Schein der Lampe. Wieder zitterte er. «Ich wollte sie, und die ganze Zeit wollte ich sie auch nicht», erklärte er. «Dann
erzählte ich ihr von meinen Leuten, von allem, was mir überhaupt etwas bedeutete. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, für mich zu bleiben, aber es ging nicht. Ich hatte das gleiche Gefühl wie da, als ich ihr die Tür öffnete. Manchmal sehnte ich mich danach, dass sie wegging und nie mehr wiederkam.»
    Der alte Mann sprang auf, und seine Stimme bebte vor Erregung. «In einer Nacht ist dann etwas passiert. Ich war ganz versessen darauf, dass sie mich verstand und erkannte, wie groß ich in dem Zimmer war. Ich wollte, dass sie begriff, wie wichtig ich war. Das sagte ich ihr immer wieder. Als sie gehen wollte, lief ich zur Tür und verschloss sie. Ich lief hinter ihr her. Ich redete und redete, und dann ging ganz plötzlich alles kaputt. In ihre Augen trat ein Blick, und da wusste ich, dass sie es wirklich verstand. Vielleicht hatte sie es die ganze Zeit verstanden. Ich war wütend. Ich ertrug es nicht. Ich wollte, dass sie es verstand, aber verstehst du, ich konnte es auch nicht zulassen, dass sie es verstand. Ich hatte das Gefühl, dass sie dann alles wissen würde, dass ich überschwemmt würde, übertönt, verstehst du. So ist es nun eben. Warum, weiß ich nicht.»
    Der alte Mann ließ sich auf einen Stuhl bei der Lampe fallen, und der Junge, von Scheu erfüllt, hörte zu. «Geh, mein Junge», sagte der Mann. «Bleib nicht länger hier bei mir. Ich dachte, es wäre gut, es dir zu erzählen, aber es ist nicht gut. Ich möchte nicht mehr reden. Geh.»
    George Willard schüttelte den Kopf, und ein Befehlston kam in seine Stimme. «Hören Sie jetzt nicht auf. Erzählen Sie mir auch den Rest», befahl er in scharfem
Ton. «Was ist passiert? Erzählen Sie mir den Rest der Geschichte.»
    Enoch Robinson sprang auf und lief zu dem Fenster, das auf die verlassene Hauptstraße von Winesburg ging. George Willard folgte ihm. So standen die beiden am Fenster, der große linkische, männliche Junge und der kleine, runzlige jungenhafte Mann. Die kindliche, eifrige Stimme setzte die Erzählung fort. «Ich habe sie beschimpft», erklärte er. «Ich habe schlimme Worte gebraucht. Ich habe ihr befohlen zu gehen und nie mehr wiederzukommen. Oh, schreckliche Dinge habe ich gesagt. Erst gab sie vor, nicht zu verstehen, aber ich ließ nicht locker. Ich brüllte und stampfte auf den Boden. Meine Flüche hallten durchs Haus. Ich wollte sie nie mehr wiedersehen, und ich wusste, nach einigen Dingen, die ich gesagt hatte, würde ich sie auch wirklich nie mehr wiedersehen.»
    Dem alten Mann brach die Stimme, und er schüttelte den Kopf. «Alles ging kaputt», sagte er leise und traurig.«Sie ist zur Tür hinausgegangen und mit ihr alles Leben in dem Zimmer. Sie hat alle meine Leute mitgenommen. Alle sind sie hinter ihr her zur Tür hinausgegangen. So war das.»
    George

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