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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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richtiggehend deprimiert
war?«
Jetzt begriff er, worauf ich anspielte. Für den Bruchteil einer
Sekunde ging sein Mund auf, dann stellte er seine Tasse ab. »Oh, Winter… Liebes. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich
glaube nicht, dass es das war. Ich glaube nicht,…«
»Aber da ist doch noch was! Irgendetwas stört Sie doch!
Etwas, über das Sie sich immer noch den Kopf zerbrechen.« Er wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster. Nicht um
meinem auszuweichen, sondern als versuchte er sich diesen
Tag vor so vielen Jahren in Erinnerung zu rufen. »Ich glaube«,
sagte er langsam, »es hat damit zu tun, wie sich Mrs Harrison
damals verhielt. Deine Tante, oder besser gesagt, deine
Großtante. Sie war dabei, als es passierte. Sie und Mrs Stone.
Nur die beiden. Irgendwas an ihr, an den beiden, war…
natürlich, sie waren verzweifelt, es war so schrecklich… deine
Großtante und Phyllis standen einander sehr nahe… aber
trotzdem, sie zogen sich dann völlig zurück…«
»Zogen sich zurück?«
»Ja. Aber hör mal, das sind reine Spekulationen…« Er
schüttelte rasch den Kopf, als wollte er die Verwirrung seiner
Gedanken abwerfen. »Das hat alles keine Bedeutung. Es war
einfach der Kummer. Entschuldige, Winter, ich mache alles
nur noch schlimmer. Du darfst das nicht ernst nehmen. Ich bin
ein alter Mann, der vor sich hin fantasiert.«
»Wer ist Mrs Stone?«
»Sie war die Haushälterin deiner Eltern. Jetzt arbeitet sie für
Mrs Harrison.«
Mehr bekam ich nicht aus ihm heraus. Kurz darauf musste
ich mich verabschieden. Es wurde Zeit, dass mich mein
Leibwächter nach Hause brachte.
15
    Am nächsten Morgen sollte ich eine erste Vorstellung davon bekommen, was es hieß, den Alltag ohne Sylvia und Ralph zu bewältigen. Ich meine den praktischen Alltag. Seit meiner Rückkehr war ich Ralph oft genug zur Hand gegangen, konnte mir also ein ganz gutes Bild von der täglichen Routine machen. Wie ich ihn ersetzen würde, hatte ich mir zwar noch nicht überlegt – in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung –, aber ich ging davon aus, dass ich den Hof zumindest kurzfristig in Schuss halten konnte. Um Viertel nach sieben stand ich auf und um Viertel vor acht war ich schon draußen und machte mich an die Arbeit.
    Zunächst lief alles nach Plan. Die meisten Rinder befanden sich auf saftigen Weiden und versorgten sich selbst. Es gab aber noch drei Koppeln, auf denen Ralph die Tiere von Hand gefüttert hatte. Also holte ich die größte Schubkarre aus der Scheune und brachte je zwei Strohballen auf zwei Weiden und einen auf die dritte, auf der nur vier Kühe und ihre Kälber untergebracht waren. Diese Art zu füttern fand ich sehr schön, denn als sie mich kommen sahen, wurden sie richtig aufgeregt. Ihr Muhen, Grunzen und Seufzen erinnerte mich an den Speisesaal im Internat in Canberra. Sie stießen ihre Schnauzen so heftig in die Ballen, dass sie die Schubkarre umstießen und ich sie regelrecht wegschieben musste, damit ich an die Schnur kam und sie durchschneiden konnte. Auf der letzten Weide ging die Schnur dann prompt verloren. Das Problem war, dass sie genauso gelb war wie das Stroh und in dem Haufen auf dem Boden spurlos verschwand. Zuerst fand ich das witzig, doch nach einer Weile machte ich mir ernsthaft Sorgen. Die Kühe mampften das Zeug mit einer solchen Geschwindigkeit und so absolut zufrieden in sich hinein, dass ich mir ausmalen konnte, wie sie die Schnur mitsamt den Halmen verschlingen würden. Ich durchkämmte den Boden mit den Händen, griff ein paar Mal in Kuhscheiße und verfluchte den Vollidioten, der die Ballen mit gelber Schnur verschnürt hatte. Schließlich fand ich ein Stück von dem Mistding, war aber eine Sekunde später überzeugt, die andere Hälfte im Maul einer der Kühe verschwinden zu sehen – sie sah aus wie eine italienische Mama beim Spaghettiessen. Ich streckte meine Hand aus um danach zu fassen, doch damit erschreckte ich sie nur. Sie machte rasch einen Schritt zurück und schlürfte das letzte Stück Gelb wie eine Nudel auf.
    O nein, dachte ich. So ein Mist. Was mache ich jetzt? Den Tierarzt holen? Fängt ja toll an, meine Laufbahn als Besitzerin von Warriewood.
    Dann beschloss ich, dass ich mich ebenso gut getäuscht und die Schnur mit einem Strohhalm verwechselt haben konnte. Also fing ich wieder an zu suchen und nach nicht einmal fünf Minuten hatte ich sie gefunden.
    Freude kam keine auf, höchstens Erleichterung. Ich hockte auf meinen Fersen, beobachtete die Kühe und dachte, wie viel ich

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